Die Wahrheit: Leider geile Geschichte
Neulich fiel ich aus allen Wolken. Nicht, dass ich fortwährend aus allen Wolken fiele oder der Sturz aus rosa Wölkchen zu meinen Lieblingsbeschäftigungen zählte ...
N eulich fiel ich mal wieder aus allen Wolken. Nicht, dass ich fortwährend aus allen Wolken fiele oder der fallschirmfreie Sturz aus allen rosa Wölkchen dessen, was ich als Realität anzusehen pflege, zu meinen Lieblingsbeschäftigungen zählte.
Seit ich aber vor ein paar Tagen beim Frühstück in der Zeitung mit wachsendem Entsetzen diese Geschichte über Raymond Carver las, befinde ich mich im freien Fall. Vielleicht bleibt mir bis zum Aufprall noch genug Zeit, zu erklären, warum das so ist.
Jeder Schreiber hat ein Vorbild, und meines ist der amerikanische Schriftsteller Raymond Carver. Er „gilt“, wie man so sagt, als wichtigster Kurzgeschichtenschreiber des 20. Jahrhunderts. Ein Künstler, dem ich selbst dann nicht das Wasser reichen könnte, wenn er verdurstend darum betteln würde. Carvers Sätze sind schlank, fast sehnig, kein Gramm erzählerisches Fett zu viel.
Keine Metapher will für ihre Schönheit gelobt werden, kein Nebensatz führt vom Weg ab, keine noch so winzigen Modalpartikel stauen den Fluss der Geschichte. Jedes Wort sitzt. Und zwar dort, wo es hingehört, ohne dauernd aufzuspringen und herumzuhampeln. Das fand ich leider geil.
„Leider“, weil: Ich kann das nicht. An Carver orientierte ich mich daher schlechten Gewissens seit Jahren, wie sich ein Seefahrer nach dem Polarstern richtet, ohne notwendigerweise nach Norden fahren zu wollen. Carver lesen fühlt sich an, als würde ich als schlingernder Radfahrer auf der Landstraße von einer röhrenden roten Rakete überholt, etwa einer Ducati 1199 Panigale.
Und nun stellte sich heraus, dass Raymond Carver gar nicht für den unvergleichlichen Stil von Raymond Carver zuständig war. Sondern ein gewisser Gordon Lish, sein Lektor. Der strich einfach alle Metaphern, Nebensätze, Modalpartikel, Adjektive, röhrende rote Raketen und was sonst noch im Original irgendwie spielerisch gewesen sein könnte – und fertig war die präzise, stringente und trockene Carver-Geschichte.
Seitdem ist die Schere in meinem Kopf zerbrochen, der Fixstern erloschen. Antriebslos treibe ich auf der Dünung meiner hauseigenen Blähsprache. Ungehindert sickern schiefe Metaphern, ziellose Nebensätze, überflüssige Modalpartikel oder fettleibige Adjektive in meine Texte.
Zu allem Überfluss habe ich nun auch noch erfahren, dass man nichts mehr „leider geil“ finden solle. Das sei unschön, heißt es beispielsweise bei Deichkind: „Leider geil sagen ist das akustische Ed-Hardy-T-Shirt“. Demnach wäre „leider geil“ sagen, als trüge man ein Leibchen mit kitschigen Tattoo-Motiven, also dornenumkränzte Herzen oder Totenschädel mit Zylindern.
Gordon Lish würde „leider geil“ streichen und durch „gut“ ersetzen. Wahrscheinlich hatte Lish auch seine Hände im Spiel, als Ernest Hemingway einst auf Anfrage eine abgeschlossene Kurzgeschichte in nur fünf Worten ablieferte.
Es ist vielleicht das Beste, was er je geschrieben hat: „Babyschuhe zu verkaufen, nie getragen“. Ich möchte jetzt die sprachpolizeilichen Ermittlungen nicht behindern, finde das aber leider geil.
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