Die Wahrheit: Der Brüderberg
Warum Deutschland Fußballeuropameister wird.
Lennard stand am Start. Oben auf dem Berg. Eigentlich war es gar kein Berg, eher ein Huckel in der Landschaft. Ihre Schlittenpiste im Winter. Steil ging es hinab. Auch jetzt im Sommer auf dem engen Trampelpfad. Lennard hob den Arm. Ganz, ganz unten winkte Elias aufgeregt zurück. Er hatte gerade noch die Kurve gekriegt. Die Kurve. Kurz vor dem See. Das war zwar eher ein Tümpel, aber er war voller Äste und Steine. Gestern hatten sie eine tote Ratte am Ufer gefunden. Und wenn man die Kurve nicht bekam …
Zuerst hatten sie Panini-Bilder gesammelt. Vor zwei Jahren. Da waren sie noch klein. Jetzt war Elias schon elf und Lennard neun. Am Tag vor dem Finale damals war das Album komplett. Die Mannschaft verlor trotzdem. Alles hatten sie gegeben, sogar einen Vorschuss auf das Taschengeld von September. Alles fürn Arsch.
Lennard und Elias grübelten nächtelang. Wie konnte man den Jungs nur helfen? Sie wären ja selbst gern auf den Platz gegangen. Aber so weit waren sie noch nicht. Obwohl Lennard bereits in der D-Jugend mittrainierte. Doch so ein volles Stadion und tausend Millionen Zuschauer vorm Fernseher waren nichts für ihn. Nerven wie Stahl müsse man da haben, meinte Elias, und sein kleiner Bruder nickte andächtig. Vielleicht konnte Mori helfen?
Mori gehörte der Kiosk neben der Schule. Angeblich war er im Krieg gewesen und hatte sogar eine Leiche gesehen. „Mori kommt aus Afghanistan“, erklärte Elias, und Lennard fragte: „In Afrika?“ – „Dann ist er ja Afrighane“, lachte Elias, und beinahe hätte sich Lennard mit ihm geprügelt. Er mochte es nicht, wenn man sich über ihn lustig machte.
Vor dem Champions-League-Finale wollten Lennard und Elias etwas Neues ausprobieren. Daumendrücken war was für Opas. Und beten was für Omas. Aber irgendwie mussten sie es doch schaffen, dass die Richtigen gewinnen. Sie fragten Mori, der ihnen sofort ein Fußballheft für Fans verkaufte. Darin würde stehen, was man tun müsste, damit die eigene Mannschaft Sieger wird. Lennard und Elias blätterten hin und her, bis sie auf einen Artikel stießen, in dem ein dicker, alter Mann behauptete, dass man Tore hineinrauchen könne. Beim Spiel wäre das wie beim Warten an einer Bushaltestelle. Immer wenn man sich eine Zigarette anzündete, käme der Bus. Wenn man also im Stadion stand und die Mannschaft, die man anfeuerte, einfach kein Tor schoss, musste man nur eine Zigarette nehmen und …
Lennard und Elias kauften sich bei Mori zwei Zigaretten, auch wenn der Afrigahne bedenklich mit dem Kopf wackelte. Nur halfen die Kippen überhaupt nicht. Elias war den ganzen Tag schwindelig, Lennard bekam Durchfall und Schweinsteiger verschoss einen Elfmeter. „Wir haben sie nicht im Stadion geraucht“, vermutete Elias, warum das Geheimmittel nicht gewirkt hatte. Sie würden etwas viel, viel Stärkeres brauchen.
„Wir müssen auf den Berg!“, entschied Lennard, der sonst nie die Ideen hatte. Dafür war normalerweise Elias zuständig, der sofort verstand. Seit der Schnee nach dem langen Winter geschmolzen war, hatten sie davon geredet. Man müsste mal im Sommer da runter. Bloß wie? Ohne Schlitten? Mit dem Rad? Lennards Kiste wäre danach hundertprozentig Vollschrott. Das brächte einen Monat Hausarrest. Wenn sie aber den Berg im Sommer hinunterrauschten, dann würden die Jungs auch Europameister werden. Das war sicher! Lennard und Elias klackten ihre Fäuste aneinander, wie sie es in dem Rap-Video gesehen hatten. „Für die Mannschaft!“
Lennard stand oben. Elias hatte es schon hinter sich. Er hatte immer wieder abgebremst. Locker war er um die Kurve gekommen. Jetzt fuchtelte er unten mit den Armen. Der Wind wehte ein Wort den Berg hinauf: „Rücktritt!“ Lennards lange Haare flatterten wild, als er sich abstieß. Krieeeessss, fauchte das Schutzblech. Das Rad machte einen Satz. Die Kurve, die Kurve, dachte Lennard nur, als er abhob. „Rakete, Rakete, ab durch die Tapete“, schoss ihm ein Reim in den Kopf, als er auch schon aufschlug.
„Lennie!“, schrie Elias und sprang in den See. Sein Bruder saß seltsam verknotet da. Wie eine Marionette, die jemand hatte fallen lassen. Neben ihm ragte ein gewaltiger Ast auf. Die Spitze stach in die Luft. Zwei Krähen flogen kreischend auf.
„Gewonnen“, murmelte Lennard. Er blutete heftig am Kopf. Aber die Knochen schienen heil zu sein. Elias griff seinen Bruder unter den Armen und zog ihn ans Ufer. Wütend riss er Gras von der Böschung und drückte es auf die Wunde an der Stirn. Lennard lächelte: „Wir werden Europameister!“ Glücklich schwankten die beiden heim.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?