Die Wahrheit: Wechselfälle des Kasus
Über die Unterschiede zwischen des Bauern Bauer und des Bauers Bauern: Eine Fallanalyse der Dativ-Endung und der deutschen Sprache.
Englische Substantive haben’s gut: Das Einzige, was ihnen zustoßen kann, ist ein s im Genitiv und im Plural. Deutsche haben’s schwerer, ihnen muss man je nach Genus, Kasus und Numerus eine andere Endung verpassen – obendrein die richtige. Es sei denn, man lässt es einfach!
„Der BVB hat es dem Favorit schwergemacht“, urteilten die „Heute“-Nachrichten des ZDF über das Champions-League-Finale, während die „Tagesschau“ befand, der SPD sei auf ihrer 150-Jahr-Feier „öffentlich Respekt von Frankreichs Präsident“ bekundet worden.
Dementsprechend entwickelt sich ein sehenswertes Gebäude in der FAZ „zum Touristenmagnet“; ein holländischer Seefahrer des 17. Jahrhunderts wurde „von einem Entdecker zum Diplomat“ (Phoenix); das bayerische Kulturmagazin „aviso“ widmet sich „dem Komponist Ludwig Berger“, wohingegen sich die taz-Kulturseite sich mit „einem Fürst der Intrige“ befasst; Arte gibt der ersten Folge einer dreiteiligen US-Doku über „Die Anfänge der Menschheit“ den Titel: „Vom Affen zum Mensch“ – der Dativ war halt schon dem frühen Mensch unbekannt –, und das Neue Deutschland beklagt „Sprachdefizite bei Migrantenkinder“, statt die eigenen zu beheben.
Wie das Beispiel „Franken sucht den Supernarr“ (so der Titel einer Sendung des Bayerischen Rundfunks) zeigt, kann man, was man im Dativ falsch macht, auch im Akkusativ einsparen, den Tierfilmer „Heinz Sielmann als einen Held“ bezeichnen (taz) und Theodor Heuss einen „idealen Präsident der ersten Stunde“ (Göttinger Tageblatt) nennen. Ein des Betrugs verdächtigter Schachspieler greint: „Sie haben mich wie einen Riesenterrorist durchsuchen lassen“ (chessbade.de), und schon im Star-Trek-Spielfilm „Der erste Kontakt“ von 1996 rief ein Offizier: „Ich suche einen Zivilist!“
Da nach den allseits bekannten Grundsätzen der Thermodynamik auch in der Sprache nichts verloren geht, taucht das en-Morphem natürlich anderswo wieder auf, zumindest in der taz: Was im Dativ verschwindet, kommt im Genitiv wieder zum Vorschein. Ob es um die „Tochter eines Diktatoren“ geht, um die „Bücher des Bremer Autoren“ Willi Gmehling oder um die GPS-Daten „eines in die Freiheit entlassenen Geparden“, des falschen Genitiven ist kein Ende.
„Ich suche einen Zivilist!“
Ist der Genitiv also der Retter des Dativen? Mitnichten, ist es doch vielmehr der Tod vom Genitiv, dass die Leute des korrekten Genitiv nicht mehr mächtig sind – und das s-Suffix entweder vergessen oder haargenau dann zum Einsatz bringen, wenn es verkehrt ist wie im Fall „des Weinbauers“, der sich in Hedwig Lachmanns Übersetzung von Balzacs Roman „Eugenie Grandet“ findet. Ein Bauer ist ein Bauer ist ein Bauer, aber nur im Nominativ – zwischen einem Bauern, einem Bauer und einem Bauer indes gibt es einen Unterschied wie zwischen des Bauern Bauer und des Bauers Bauern. Klar, oder?
Das deutsche Deklinationssystem ist kompliziert. Endungen zu tilgen, wenn der Kasus bereits anderweitig angezeigt wird, macht die Sache seit jeher einfacher, weshalb man heute „dem Nachbar“ sagt und „dem Kinde“ nicht mehr.
Diese Tendenz zur Angleichung der Formen zeigt sich auch sonst und erklärt vielleicht, warum dem „Herrn“ neuerdings im Singular gern die Pluralendung angeklebt wird: Da hat nicht nur „die Tochter des Hausherren“ (taz nord) ein e zu viel, sondern auch die christliche Mörderbande „Lord’s Resistance Army“, wenn sie auf Deutsch „Widerstandsarmee des Herren“ (Hannoversche Allgemeine) heißt; einen zu viel kriegt auch Fausts Mephisto, wenn der Tagesspiegel glaubt, er diene „dem Herren nur als aufmüpfiger Knecht“. Weil, was dem Genitiven und dem Dativen recht ist, den Akkusativen ebenso ziert, kriegt auch der im Singular das Pluralmorphem: „Brillen für Ihre besonderen Augenblicke – für den Herren“, verspricht die Firma Apollo Optik; und die taz kennt „den Herren über Leben und Tod“.
Doch es geht nicht nur bei den Formen drunter und drüber. Schon die Wahl des richtigen Kasus bereitet bisweilen Schwierigkeiten. Den klassischen Fehler lehrt Sie das folgende Beispiel aus Tobias Rothenbüchers Übersetzung von Anne Brontës Roman „Agnes Grey“: „Welch herrliche Aufgabe, jungen Gedanken das Sprießen zu lehren!“
Grammatik und Realität gehen selbstredend nicht immer Hand in Hand. Dass „lehren“ den doppelten Akkusativ erfordert (aber zum Beispiel „schenken“ Dativ und Akkusativ), ist eine syntaktische Frage, keine semantische. Nichtsdestoweniger kann ein empirischer Unterschied auch ein grammatischer sein, beispielsweise wenn es um Ort und Richtung geht: Der Unterschied zwischen wo und wohin spiegelt sich im Unterschied von Dativ und Akkusativ.
Außer in der taz, die deshalb schon mal an den „Beamtenexport aus dem Bonner Innenministerium im Osten der erweiterten Republik“ erinnert. Ob infolge von dem Import, nein: infolge des Import, nee: des Imports solcher Neuerungen im Deutsch, ach was: im Deutschen, quatsch: ins Deutsche es dem Mensch beschieden ist, irgendwann wieder zum Aff zu werden?
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