Die Wahrheit: Richtigstes Deutsch
In der deutschen Sprache vollzieht sich ein kontroverser Wandel bei zweifelhaften Fällen – besonders in paradoxen Steigerungsweisen.
Die Zeiten ändern sich, und die Sprache ändert sich mit ihnen. Oft ist es schwer zu entscheiden, ob eine veränderte oder erweiterte Wortbedeutung oder eine grammatische Neuheit sinnvoll und willkommen oder überflüssig, wenn nicht verderblich ist.
Die „Expertise“ zum Beispiel, eigentlich das Expertengutachten, bezeichnet zumindest in der taz mittlerweile auch das bloße Expertenwissen; das Adjektiv „kontrovers“, bislang Fügungen wie dem „kontrovers diskutierten Thema“ vorbehalten, dient inzwischen auch zur Einordnung eines „kontroversen Politikers“ (Arte-Magazin) und kann sogar, wie in einem Zuckerberg-Porträt auf Phoenix, „eine kontroverse Erfolgsgeschichte“ charakterisieren.
Kontrovers könnte man demnach auch den Konjunktiv nennen, wenn er es denn wäre; tatsächlich ist aber nur sein Gebrauch widersprüchlich, ja widersinnig. Richtig ist oft genug, insbesondere wenn die Aussage eines Dritten in indirekter Rede wiedergegeben wird, der Konjunktiv I, der mit der Präsensform; verwendet wird daher meist der Konjunktiv II, den man auch als Irrealis bezeichnet: „Es gäbe Hinweise darauf, dass Nanopartikel gesundheitsschädlich sein können“, referiert die taz und neigt also der Ansicht zu, dass es in Wahrheit keine Hinweise gibt; gäbe es welche, müsste es „gebe“ heißen.
Doch Fehler haben ihr Gutes, findet so doch auch einmal die Wahrheit über den Vatikan in den Spiegel, der den Regensburger Kirchenmann Müller anlässlich der Brasilienreise des frischgebackenen Papstes zitiert: Diese nämlich zeige, „sagt Bischof Müller, dass es noch etwas anderes gäbe als ’diesen verlotterten Haufen aus Rom voller Prunk und Fürstengehabe‘“.
Dem Präsens-Konjunktiv kann man nachsagen, er klinge ein bisschen fein, altklug, ja hochnäsig, aber nichtsdestoweniger ist er meiner Expertise zufolge korrekt.
„Eine geborene Künstlerin“
In einem ganz anderen und ziemlich neuen Zusammenhang ist der Gebrauch der Präsensform zumindest fragwürdig: Wenn die taz schreibt, die Humortherapeutin „Barbara Wild ist 1961 in Bad Godesberg geboren“, obwohl die Sache über 50 Jahre zurückliegt, dann wird offenkundig das Partizip als Adjektiv begriffen. Dieses jedoch hat eine andere, übertragene Bedeutung („eine geborene Künstlerin“); zudem geht es an den Tatsachen vorbei, die Geburt als Eigenschaft aufzufassen statt als passiv erlebte Handlung: Man wird geboren und wurde 1961 in Bad Godesberg geboren.
Vielleicht ist auch das ein kontroverser Wandel, der kontroverse Leserbriefe nach sich zieht von Leuten, die nicht geboren worden sein wollen. Im Fall der zusammengesetzten Partizipien, die wie Adjektive gesteigert werden, ist die Angelegenheit hingegen eindeutig. Die „vielversprechendsten Treibstoffe“ oder „vielbefahrensten Bahnverbindungen“ (taz und taz) sind hier die vielvorkommendsten paradoxen Steigerungsweisen, während „der altgedientste Thronanwärter“ (aus dem Anzeigenblatt Super Sonntag) ganz neugemachtst ist.
Wer aber merkt, dass hier etwas faul ist, und sich erinnert, dass Adjektive wie „alt“ oder Adverbien wie „viel“ eigene Komparationsformen haben, der verschlimmbessert die Chose noch und bildet Superstlativste à la „die tiefstgreifendste soziale Revolution der Geschichte“ oder „der meistgelesenste afrikanische Roman“ (taz und abermals taz).
Semantische Unterschiede
„In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige“, empfahl Karl Kraus. Manche entscheiden sich lieber für das Falsche, etwa wenn ein Verb zwei Bedeutungsvarianten hat und daher auf zweierlei Weise konjugiert werden kann. Dann werden „die letzten Elemente des Wohlfahrtsstaates geschliffen“ (attac-Rundbrief), also im Gegensatz zum Gemeinten auf Hochglanz gebracht. Oder wenn Verben täuschend ähnlich klingen: Ägyptens einstmaliger Präsident Mursi „verbat jede Anordnung von Untersuchungshaft im Zusammenhang mit journalistischen Verfehlungen“ (taz) – oder verbot er es sich? Verbetete er sich?
Kontroverse Fragen! Und es geht auch sonst drunter und drüber, selbst Mensch und Ding geraten durcheinander. „Er verlegt die ganze Siroe-Oper aus dem Palast in eine geschundene Villa“, schreibt die taz über den Regisseur einer Händel-Oper. Der Titel eines anderen Artikels versprach sogar „Die Wiederauferstehung des zersetzten Jürgen Dehmers“. Freilich stellt sich im Fortgang des Artikels heraus, dass Dehmers doch kein Jesus ist, der nach seiner Verwesung auferstanden ist, sondern als Missbrauchsopfer in der Odenwaldschule „ein zersetzter und zerstörter Junge“ war.
Die Sachverhalte können sich sogar ins Gegenteil verkehren, so dass der Ermordete zum Mörder wird: „Ferdinando de’ Medici war zunächst Kardinal, bis er 1587 seinen Bruder Francesco als Großherzog ablöste. Bis heute wird ihm dessen Mord nachgesagt.“ (Arte-Magazin)
Wie sagte doch Johannes von Thurn und Taxis vor Jahren im Spiegel-Interview: „Zwischen beiden Begriffen sehe ich lediglich einen semantischen Unterschied.“ Wenn’s weiter nichts ist, muss wohl auch der kontroverseste Sprachwandel gebilligt werden.
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