Die Wahrheit: Ruhig, Kämpfer, ruhig
Brasilianische Woche der Wahrheit: In seinem nervösen Tagebuch bereitet sich Paulo Coelho auf die Frankfurter Buchmesse vor.
Der weltberühmte Schriftsteller Paulo Coelho will in diesem Jahr zur Frankfurter Buchmesse reisen. Doch so leicht ist das nicht, wenn ein weltberühmter Schriftsteller eine Reise antritt, wie sich an seinem Tagebuch zeigt, dem sich Paulo Coelho anvertraut.
Montag
Vielleicht sollte ich dieses Tagebuch verstecken. Es wird sogar mir allmählich anstrengend, zwei Tagebücher zu führen, das offizielle liegt seit Wochen ungeliebt im Schrank. Aber wem soll ich sonst anvertrauen, dass ich täglich mit meinem Coach den Auftritt in Frankfurt übe? Anstatt mich auf Fantasiereisen entführen zu lassen, muss ich ständig diese realen Reisen antreten, die mich seit jeher so mitnehmen! Die Baldriantropfen haben wir schon in ein mit geheimnisvollen Zeichen beschriftetes Fläschchen abgefüllt. Chrissy (Christina Oiticica, Künstlerin und Coelhos Ehefrau, d. Red.) soll mir besser eine große Dose Haschischplätzchen backen. Ich schaffe es sonst nicht, die Angst zu besiegen, die Inspiration könne mir im entscheidenden Moment ausgehen wie in diesen Tagen die Haare.
Dienstag
Warum träume ich in letzter Zeit ständig von der Zeit mit Raul (Raul Seixas, Musiker und Mitbegründer der „Sociedade Alternativa“, die Red.)? Als wir junge Burschen mit der Kraft unserer Redseligkeit die Frauen anzogen wie heute nur noch die Priester. Nur darum bin ich Schriftsteller und berühmt geworden: Um endlich Gnade bei den Frauen zu finden. Diese deutsche Rapperin Sabrina Setlur hat mich dennoch damals bei der Bambi-Verleihung zurückgewiesen! Dabei hatte mir mein Gefühl eindeutig mitgeteilt, es würde eine schicksalhafte Begegnung werden. Noch Monate danach gelang es mir kaum, das Göttliche in meinem Leben zu erkennen. Ich erkannte nur Falten, Glatze, Bauchansatz. Über sechzig wird einfach niemand schöner. Selbst wenn ich mir vorher die Falten unterspritzen lasse und der Coach sagt, dass mich das schlichte Schwarz schlank macht. Vielleicht habe ich wegen der Rapperin ein deutsches Trauma und bin deswegen so nervös vor der Buchmesse. Ach Raul, warum hast du mich verlassen?
Mittwoch
Es wird immer schlimmer. Die negativen Gefühle überschwemmen mich, vor allem, wenn ich an die Interviewtermine denke. Mit Menschen, die gierig jedes Deoversagen erschnüffeln, anstatt sich auf die Schwingungen des Lichts einzulassen. Dass die meisten meiner Sprüche aus der Zeit stammen, als wir die „Sociedade Alternativa“ gegründet haben, hat, der Vorsehung sei Dank, bislang niemand bemerkt. Alle drei Jahre fange ich an, mich zu wiederholen. Auch das blieb unbemerkt. Die Menschen haben kein Gedächtnis, ich bin sicher, dass sie alle Marihuana konsumieren. Chrissy sagt, ich muss aufpassen: Wenn ich zu viele Kekse zu mir nehme, strömen die Worte zu unkontrolliert aus mir heraus. Sie will mir nur eine Notration backen. Und ich soll sie nicht mehr Chrissy nennen.
Donnerstag
Ich sage jetzt jeden Tag dreimal vor dem Spiegel zu mir: Ich bin einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt. Schließlich bin ich der Mann, der den Berg besiegen will. Ich sage zum Berg: Ich fürchte mich nicht vor dir. Der Berg ist die Literaturwelt, und die Idee stammt von meinem Coach. Meine Güte, ich bin einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt! Meine Gegner dürfen nie, nie, niemals erfahren, dass ich in meiner privaten Burg täglich „Donald Duck“ lese und darin am liebsten Dagobert wäre. Mein Coach würde sagen: Sei unverzagt, dann bist du immer noch einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt. Die Wahrheit ist: Je länger er mich coacht, desto mehr findet er auf seinem Konto vor. Schluss jetzt, ich möchte nicht länger grübeln, sondern die schweren Zeiten annehmen, wie es eines Kriegers des Lichts würdig ist. Außerdem brauche ich meinen Schönheitsschlaf.
Freitag
In der letzten Nacht habe ich von Literaturpreisen geträumt. Sie wurden auf einer Art von Sportveranstaltungen verliehen, und ich stand die ganze Zeit oben auf dem Erster-Sieger-Treppchen. Ach, war das schön! Das Schicksal ist unergründlich, ich will freien Herzens annehmen, was kommt! Bislang hat es mir leider nur Preise für die Massen verkaufter Bücher zugestanden, anstatt für deren Inhalt. Bambi statt Büchner. Ich habe unermüdliche Niederlagen hinnehmen müssen, bis ich in die Brasilianische Literaturakademie gewählt wurde. Vielleicht sollte ich mich lieber in die Politik begeben? Präsident ist sicher auch eine schöne Herausforderung! Eine Regierung aus lauter Kriegern des Lichts bilden, die sich jeden Morgen als Erstes meinen Blog durchlesen! Ich könnte sogar persönlich zu ihnen sprechen. Ich sehe schon vor mir, wie Chrissy misstrauisch fragt: „Hast du wieder geraucht?“ Meine Antwort lautet: Nein, nein und abermals nein. Das Schicksal gönnt mir nur gelegentlich himmlische Flashbacks der Drogen aus den guten, alten Zeiten.
Samstag
Der Sport hat mich wieder in meinen Träumen verfolgt. Diesmal bin ich einen Berg hochgehechelt, eine Meute wilder Hunde kläffte hinter mir her. Ich weiß auch, warum: Ich darf nicht nachlassen in meinen Bemühungen, ich muss sofort auf den Hometrainer! Dreißig Kilometer extra an den letzten Tagen vor der Messe, hat mir der Coach befohlen. Manchmal beneide ich Chrissy, auch wenn ich so niedere Gefühle wie Neid längst hinter mir gelassen habe. Ihr schreibt niemand übersinnliche Kräfte zu, dafür muss sie auch nicht ständig vital, gesund und vollkommen erleuchtet aussehen. Kürzlich habe ich schon wieder ein entsetzlich unvorteilhaftes Foto von mir entdeckt, auf dem meine Tränensäcke Romane aus meiner Vergangenheit erzählen. Ich werde nicht aufgeben und die Sitzungen bei der Kosmetikerin verdoppeln. Und im nächsten Jahr lasse ich mir das Gesicht straffen. Ich darf dem Gefühl des Versagens keinen Raum geben.
Sonntag
Eines habe ich bisher nicht einmal diesem Tagebuch anvertrauen können. Mein Coach möchte mir noch vor Frankfurt abgewöhnen, was er meine „Zwangshandlungen“ nennt. Weil vor einiger Zeit ein Journalist beobachtet hat, wie ich meine magischen Zeichen ausübe, bevor ich in ein Auto einsteige. Die magischen Zeichen sind grundlegend in einer feindlichen Welt! Die Feinde stürzen sich natürlich darauf, um mich zu schwächen. Ich kann mich glücklich schätzen, dass er nicht gesehen hat, wie mein rituelles Gebet vor dem Toilettengang aussieht! Und die Waschungen, die jedes Mal vor dem Internet-Banking unerlässlich sind! Ich glaube, ich nehme meinen Coach nach Frankfurt mit. Der wahre Kämpfer schämt sich nicht, einen Freund in die Arena mitzunehmen. Er soll mich unauffällig am Ellbogen fassen, wenn Bedrohungen nahen oder meine magische Begabung für die Menge nicht klar genug erkennbar ist. Dafür lasse ich Chrissy daheim. Das eröffnet uns außerdem Chancen in einer ganz anderen Arena. Ob diese Rapperin auch auf der Messe ist? Besiegt ist nur, wer aufgibt. Alle anderen sind siegreich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!