Die Wahrheit: Wie es mit Brahms begann
Aus einem der Kellerräume war leise Klaviermusik zu hören, die immer gleiche Stelle eines Stücks, einer Sonate von Brahms, wurde wiederholt ...
Ich saß im Hotel und wusste nicht, wie ich, vor allem zwischen den Mahlzeiten, die Zeit totschlagen sollte. Abends konnte man ja wenigstens ausgehen und sich ein wenig belustigen, die Tage aber waren eine Wüste.
Beim Frühstück kam ich manchmal mit einem anderen Herrn ins Gespräch. Bedauerlicherweise konnte ich kein Wort von dem verstehen, was er mir erzählte, weshalb ich meinerseits, um höflich zu sein, ebenfalls völlig unverständlich daherredete. Zum Beispiel sagte ich: „Kerf kauf Knelldrich“ (Auf Deutsch etwa: „Es ist ja nicht nur das Leben, sondern auch die Wollmütze!“).
Im Gespräch mit anderen Hotelgästen oder dem Personal wies ich etwa in Form eines ausschweifenden Monologs darauf hin, welch ein erstaunlicher Unterschied doch zwischen einem Gläschen Wein in aller Gemütlichkeit und einer Alkoholvergiftung besteht. Manchmal löste ich an der Mittagstafel Diskussionen aus mit Behauptungen wie „Parkett an der Decke ist auch nicht das Wahre“ oder „Es heißt, ohne Literatur würden viele Bücher nicht entstehen“.
Wenn dann endlich der Nachmittag kam und mit ihm die Zeit für Kaffee und Kuchen, wollte ich mich für die erlittene Langeweile entschädigen. Die Frau an der Rezeption gab mir den Rat, zur Abwechslung das nahegelegene Konzertcafé Klingenberger aufzusuchen. Dort sollte demnächst sogar ein Klavierabend mit Werken von Brahms stattfinden.
„Mitten auf der Brust ein Brahms-Porträt?“
„Das ist kein Grund, nicht heute schon hinzugehen“, sagte ich und ging hin. Bei Salonmusik ließ ich mir dort die Sahnetorte schmecken und lauschte den Darbietungen einer ältlichen Diseuse. Sie rezitierte Gedichte wie dieses: In der Nacht / Sind die Blumen erwacht / Und haben unter dem Dach / Besinnungslos Krach / Gemacht.
Ein spärliches, betagtes Publikum spendete müden Beifall. Ich trank so viel Tee, dass schließlich der Gang zur Toilette zwingend notwendig wurde. Dazu musste ich ins Untergeschoss. Aus einem der Kellerräume war leise Klaviermusik zu hören, die immer gleiche Stelle eines Stücks, einer Sonate von Brahms, wurde wiederholt. Die Tür war nicht geschlossen, deshalb ging ich hin und blickte neugierig in den Raum. Ein jüngerer Mann saß drinnen an einem Konzertflügel.
Er sah mich und erzählte mir sogleich, dass er für den nächsten Abend übe. Er habe ein Problem mit Brahms, werde irre an ihm, fühle sich von ihm verfolgt. Brahms manipuliere seine Gedanken. Das Ganze habe begonnen, als er, der Pianist, mit einer bestimmten jungen Frau intim wurde, die, wie sich herausstellte, tätowiert war. „Dass sie überhaupt eine Tätowierung hatte, war beileibe schon schlimm genug“, klagte der Mann, „aber mitten auf der Brust ein Brahms-Porträt?“
Sie habe nicht einmal gewusst, um wessen Konterfei es sich handelte, sondern geglaubt, es sei ein berühmter Frauenmörder, der berüchtigte Reeperbahngottlötstör mit biologischen Frauenrückmeldemerkmalen. Den Namen Brahms hatte die Tätowierte noch nie gehört. Und nun wolle Brahms ihn vernichten, sagte der Pianist. Ich wünschte ihm viel Glück für den Klavierabend und ging austreten.
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