Die Wahrheit: Trink deinen Traum
Mit ihrer Kampagne „Bier bewusst genießen“ stellt der Deutsche Brauer-Bund ungeübte Gelegenheitstrinker vor große Herausforderungen.
Wie Betrunkene gelegentlich einen Laternenpfahl brauchen, um nicht umzukippen, so benötigen manche Menschen eine Lebensmaxime, an der sie sich bei Bedarf festhalten können.
Es sind jene Sprüche, die in der Schule mit roter Tinte in Poesiealben geschrieben werden, später begegnen sie uns auf Abreißkalendern oder wir lesen sie auf dem Umschlag von Romanen, die uns Tanten zum dreißigsten Geburtstag schenken.
Es handelt sich um Lebensweisheiten vom Kaliber eines „Carpe Diem – nutze dein Leben!“ oder auch „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum!“ Eine Gruppe Berliner Kuschelrapper hat jene beiden Zeilen sogar in einem Song zu einem Refrain verwurstet. Bei den meisten Zuhörern dürfte so ein Lied aber nur den Wunsch wecken, weniger als einmal gelebt zu haben.
Tiefe Einsichten lassen sich gewiss auch in einzelnen Sätzen ausdrücken. Aber Allerweltssprüchen sollte man nicht folgen wie biblischen Geboten. Auf ausgetretenen Pfaden gelangt man nicht ins Paradies, sondern bloß dahin, wo die meisten anderen auch schon sind, also in die Hölle. Man meide die Durchschnittsmeinungen des Konsensgeschmacks und suche lieber nach dem Unscheinbaren und Abseitigen, dem unfreiwillig Tiefsinnigen und Hochkomischen, dem Murmeln des Unterbewusstseins unserer schlafenden Gesellschaft.
Kaum einer schaut genauer auf die unzähligen Plakate in den Städten, die zum Kauf von Bier animieren sollen. Solche Werbung lässt die meisten Leute kalt, denn Bier hat gar keine Reklame mehr nötig. Die Menschen sind von den positiven Eigenschaften dieses Produkts bereits völlig überzeugt. Und doch lässt sich auf jenen Plakaten Erstaunliches entdecken. Ganz klein in einer Ecke, wie von schlechtem Gewissen versteckt, stehen da drei Worte von tiefster Weisheit, die sich bestens als Lebensmotto eignen: „Bier bewusst genießen.“
Wie oft verstoßen wir alle gegen diese kluge Maxime! Wie oft schon haben wir Bier bewusstlos genossen! Wie oft lagen wir im Straßengraben und dachten: Mein Gott, bin ich heute wieder schön besoffen! Ich wünschte nur, ich wäre nicht so schlimm besoffen, dann bekäme ich viel klarer mit, wie schön besoffen ich bin! Wie berauschend könnte der Genuss von Bier sein, wäre da nicht die ewige Ablenkung durch den Rausch!
Alkfreies Bier, der Gipfel des Genusses?
Der Deutsche Brauer-Bund gibt vor, mit seiner Kampagne „Bier bewusst genießen“ gegen exzessiven Alkoholkonsum wirken zu wollen. Jene jugendlichen Komasäufer, die sich am nächsten Morgen nie an ihren Genuss erinnern können, sollen sich die drei Worte wohl über das Arschgeweih tätowieren lassen. Tatsächlich behauptet eine Internetseite allen Ernstes, die Deutschen Brauer hielten es „nicht für akzeptabel, betrunken zu sein“.
Die Brauer waren offenkundig besoffen, als sie das schrieben. Nähme man die Worte beim Wort, dann wäre ja alkoholfreies Bier der Gipfel des Genusses. Wer schon einmal davon genippt hat, wird gegenteiliger Auffassung sein. Die Worte der Deutschen Brauer übersteigen, ja überwältigen in Wahrheit die Absicht ihrer Schöpfer. Die Maxime „Bier bewusst genießen“ verkündet eine ganz andere Botschaft: Steigere deinen Genuss, indem du das Bewusstsein deines Genusses erhöhst! Wie aber ist dies möglich? Einzig durch regelmäßiges Training und eine kontinuierliche Steigerung des Konsums.
Irgendwann schlägt die Erhöhung der Quantität in eine neue Qualität des Genusses um. Nur ein wirklich erfahrener Trinker kann nach zehn Bieren noch bewusst seinen Rausch erleben. Während ungeübte Gelegenheitstrinker längst auf der Toilette in ihrem eigenen Erbrochenen eingeschlafen sind, schaut der Wirkungstrinker am Tresen mit klarem Blick seinem Glück bis auf den Grund. Die Kellnerin wirft ihm schmachtende Blicke zu und haucht: „Noch nie sah ich einen Mann, der sein Bier so bewusst wie du genoss!“ Diesem Trinker reißt kein Film, weder Kopfschmerz noch Übelkeit schütteln ihn am nächsten Morgen. In seinem Leben gibt ein Rausch dem nächsten freundlich die Klinke in die Hand.
All dies sagen uns jene drei unscheinbaren Worte der Deutschen Brauer. Man muss sie nur zum Sprechen bringen.
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