Die Wahrheit: Die Last mit der Textlastigkeit
Wenn man in einem Flughafen sitzt und nichts tut, außer herumzusitzen und zu warten, dann fallen einem plötzlich all die Worte überall auf.
E s gibt neuerdings Leute, neue Leute, also im Sinne von „junge Menschen“, denen sind die maximal 140 Zeichen eines Tweets schon „zu textlastig“. Aber auch manch älteren Leuten wäre ein Satz wie der vorliegende – mit seinem eitel eingeschobenen Nebensatz, den umständlichen Umstandswörtern und schmierenden Abtönungspartikeln – viel zu „verschwurbelt“. Die sind dann schnell „raus“ aus einem Text, wie wir Experten sagen, und wenden sich einer schlichteren Lektüre zu. Ich kann das gut verstehen. Mir ging es neulich ähnlich. Dabei machte ich eine interessante Entdeckung.
Wegen einer Verspätung verbrachte ich mehrere Stunden in der Lounge eines Flughafens. Nachdem ich alle meine Zeitungen leergelesen hatte, saß ich einfach nur so rum. Ich telefonierte oder spielte nicht mit meinem Smartphone, ich starrte nicht auf mein Laptop, ich nippte an keiner Flasche. Ich saß einfach so rum und guckte.
Jaja, dachte ich, das gute alte Nursorumsitzenundgucken. Ist auch ein wenig aus der Mode gekommen. Etwas, das alte Leute tun. Solche, die sonst nichts mehr zu tun haben. Dann dämmerte mir, dass ich nicht nur guckte. Ich las. Ich musste lesen, weil einfach überall etwas stand. Auf Leuchtreklametafeln, Hinweis- und Werbeschildern, auf Pinboards, T-Shirts, Taschen, auf dem Boden, der Decke und behaarten Oberarmen.
Die Welt erschien mir plötzlich extrem, na ja, textlastig. Feine Geister beschweren sich über Pillepalle oder Petitessen wie Lärm-, Licht- oder Funkwellenverschmutzung. Aber nur die allerfeinsten Feingeister stören sich an der Zudringlichkeit von Geschriebenem. Komprimiert in zuklappbaren Büchern oder verteilt auf Zeitungsseiten mag das ja noch angehen. Nicht aber im öffentlichen Raum! Wortsmog, Begriffsramsch und Buchstabenfeinstaub, wohin das Auge blickt. Sogar in meiner Intimsphäre. Bis ich beim Baden die Inhaltsstoffe meines Shampoos zu Ende studiert habe, ist längst das Wasser kalt. Die Folge: Kopf- und Gliederschmerzen, Husten und Kurzsichtigkeit.
So saß und las ich mich in eine rechtschaffene Rage hinein. Dann zückte ich mein Notizbuch, um sogleich zur Beweisaufnahme zu schreiten. Eine komplette Aufzeichnung von restlos allem, was ich in meinem Gesichtskreis entziffern konnte, in langsamer Kamerafahrt von rechts nach links. Und was soll ich sagen? Es wurden nur 444 schwurbelfreie Zeichen. Ein Meisterwerk von einem Gedicht zur condition humaine, das kein Geringerer als Christian Brückner vortragen und auf das Erich Fried neidisch sein sollte:
„Arrivals. Birmingham International. Jack Daniel’s. Worlddutyfree. More Than You Imagined. Cadbury. Gates 1–20. Tissot. Aspire Servisair Lounge. Prada. Please Pay Here. Discover Something New. Discover Something Exclusive. Cash. Eye Love Sunglasses. 20% Off. Rado. Climbing Your Way To A Better Deal. American Express. Change Here. Today’s Rates. £. $. €. Tom Ford. Fashion Place. Buy Back Guarantee. Luis Vuitton. Carrera Racing since 1956. Blanc et Noir. M&M’s. Recycle Here. Cloud Nails. Mother. Father. Departures.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!