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Die WahrheitZur Dialektik des kahlen Schädels

Kolumne
von Joachim Schulz

Die Geschichte des Mannes ist eine Geschichte des Kampfs gegen den Haarausfall. Und zwar schon seit der Zeit des Neandertalers.

D ie Geschichte des Mannes ist eine Geschichte des Kampfs gegen den Haarausfall. Wahrscheinlich kleisterte sich schon Herr Neandertaler in seiner Verzweiflung Pterodactylusschmalz aufs kahle Haupt. Seitdem rührten Legionen von Quacksalbern Tinkturen zur Wiederaufforstung des Schädeldachs an und wurden reich damit: Kein Preis, der zu hoch, kein Versprechen, das zu abenteuerlich gewesen wäre – wir Männer kauften jedes Produkt, das neu auf den Markt kam, und schmierten es uns auf die Platte.

Ich konnte es daher gut verstehen, wenn Luis lamentierend an der Theke des „Prokopop Z“ saß und zu viel Bier trank. Ein dichter Lockenurwald bedeckte seinen Kopf, doch ausgerechnet er lebte mit einer Frau zusammen, die vernarrt in Glatzen war. „Ich wollt, mein Liebster hätte / ne Plätte, ne Plätte!“, summte Beate oftmals, strahlte ihn an und verstand überhaupt nicht, dass er stehenden Fußes ins „Prokopop Z“ rannte und Vergessen suchte.

„Mal ehrlich“, seufzte er, „sehe ich nicht schon ohne Glatze behämmert genug aus? Schau dir meine riesigen Ohren an! Schon mein Opa hatte diese Ohren, und diesen kugelrunden, globusgroßen Kopf: Hätte ich eine Glatze und im Sommer mal wieder einen Sonnenbrand auf der kahlen Glomse, sähe ich aus wie ein feuerrot leuchtender Heißluftballon mit Dumbo-Ohren!“

Beate aber focht das nicht an. „Glaub mir“, säuselte sie, „mit Glatze wärst du perfekt!“ Platten beherrschten ihre gesamte Heldengalerie. Ihr Lieblingsheld in der Geschichte: Michail Gorbatschow. Ihr Lieblingsmaler: Pablo Picasso. Ihr Lieblingsfußballschiedsrichter: Pierluigi Collina. Die einzigen Ausnahmen in dieser Kahlkopftruppe waren George Clooney und Luis. Aber auch die zwei hätte sie mit Glatze noch mehr geliebt.

„Muss ich nicht befürchten, dass sie eines Tages irgendeinem Kahlkopf, der zufällig ihren Weg kreuzt, willenlos hinterherdackelt?“, fragte Luis, „in den Bann gezogen von einer spiegelblanken, im Sonnenlicht glänzenden Platte?“

Bizarre Alpträume begannen ihn zu plagen: Mal wurden er und Beate aus einem Kino geworfen, weil er eine Turmfrisur à la Marge Simpson besaß, die den hinter ihm Sitzenden die Sicht versperrte, mal wurden sie am Betreten eines Restaurants gehindert, da man befürchtete, dass seine Haare in die Suppen der anderen Gäste segeln könnten – überall flogen sie raus, nirgendwo kamen sie rein, und jedes Mal schaute Beate ihn vorwurfsvoll an. Auch sie trug eine Glatze. Wie alle anderen Menschen. Er war ein Ausgestoßener. Er war verzweifelt.

Dann aber kam der Sommer. Ich war bei Luis und Beate zum Grillen, und plötzlich hörte ich sie kichern. Sie stand hinter Luis, fuhr mit den Fingern durch seine Haare und sagte: „Du wirst licht!“ – „Was?!“, entfuhr es ihm. „Du wirst licht!“, wiederholte sie, und Luis fing an zu grinsen. Er sah sich als feuerroten Heißluftballon mit Dumboohren durch den Juli spazieren und war der erste Mann der Menschheitsgeschichte, dem die beginnende Schädelentlaubung wie eine Erlösung vorkam.

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