Die Wahrheit: Vom dunklen Meeresgrunde
Die Wahrheit-Bierprobe: Acht Testtrinker verköstigen das von Finnen und Belgiern nachgebraute historische Wrackbier „Stallhagen 1843“.
Am Freitagabend findet die Weihnachtsfeier der taz statt. Zuvor gab es ein Vorglühen der besonderen Art: einen Biertest, bei dem acht Redakteure einen sehr speziellen Tropfen verköstigten.
Im Jahr 2010 entdeckten Taucher in einem Schiffswrack vor der finnischen Küste neben mehr als 100 Champagnerflaschen auch fünf Flaschen Bier, die jedoch nicht mehr genießbar waren. Da das Bier ursprünglich aus Belgien kam, ließen die cleveren Finnen Wissenschaftler der Universität Löwen die Bestandteile des Biers analysieren. Gemeinsam mit Chemikern und Mikrobiologen wurde der Gerstensaft von damals nachgebraut.
Das nach dem alten Rezept rekonstruierte Bier nannte die finnische Brauerei Stallhagen 1843. Das nahm die Wahrheit zum Anlass, einige Flaschen auf den Ålandinseln zu bestellen und acht Fachleute zur Probe zu bitten. Als Referenz gab es ein modernes herbes Bier: „Flensburger“. Ob der historische Stoff Zungen unserer Zeit behagt, interessiert vor allem die Brauerei Stallhagen, die noch einen Vertrieb in Deutschland sucht.
Weichwellig
Stallhagen 1843. Alc. 4,5 % vol., 37,5 cl., Godby, Åland, Finnland.
Hopfen und Bitzel sind die geschmacklichen Sensationen, die Bier für den Genießer interessant machen. Während beim Sekt die Kohlensäure den Geschmack eher verdeckt, ist es beim Bier andersherum. Sie ist oft entscheidend, wenn es um Frische, Vollmundigkeit und Körper geht, je nachdem ob es scharf prickelt oder cremig moussiert. Da beim Wrackbier der Hopfen fehlt, ist die Kohlensäure wichtig. Sie legt sich auch anfangs mit leicht pfeffrigen Noten an den Gaumen, rollt aber dann weich wie Samt durch den Rachen. Nur eine kleine Ostseewelle, die keinen Seemann erschüttert. Jörn Kabisch
Schaumdicht
Was dachten Belgier im 19. Jahrhundert über Finnen? Vermutlich hielten sie die Nordleute für finstere Gesellen. Da der Tango und der Metal noch nicht erfunden waren, wollten sie die Finnen auf andere Art aufheitern – mit Bier. Also brauten sie einen sonnigen Saft, mit einem Schaum so fest wie Dichtungsmasse. Jede Fuge in einem Schiff hätte man damit abdichten können. Leider tranken die Seeleute damals das Bier aus, um schaumdicht zu werden, während ihr Frachter sang- und klanglos unterging. Darüber konnten die Finnen gar nicht lachen und entdeckten den Tango, den Metal und die Schwermut. Michael Ringel
Saunaholzig
Es schmeckt holzig. Etwa so, als würde man an den Bänken in der Sauna lecken (Heiß! Nicht machen!). Ja, das mag ein Finnlandklischee sein und eklig klingen, lässt aber ein sehr bodenständiges Gefühl auf der Zunge zurück: nicht brillant, aber okay. Erwartet hatte ich etwas völlig Neues, noch nie Probiertes. Aber es stellt sich heraus, dass die Seeleute im 19. Jahrhundert dann doch nur mit einem rauchig holzigen Weizenbier übers Meer segelten. Und es bleibt das wohlige Gefühl, dass sich die Finnen damals auf hoher See – fernab jeder Sauna – durch den Geschmack dieses Bieres zumindest etwas näher der Heimat fühlten. Jürn Kruse
Brackmeerig
Fruchtig, behauptet die Pressemitteilung. Fein und raffiniert, schreibt die Brauerei. Fein ist der Geschmack tatsächlich, so fein, dass man trinkt und trinkt und trinkt und trinkt und trinkt, um den Geschmack zu potenzieren, um der Zunge ein paar mehr Aromen zu liefern, die sie umschlingen und zurückhalten kann. Raffiniert, ja, weil der Geschmack nach altem brackigem Wasser perfekt getroffen ist, obwohl das Bier nicht 170 Jahre lang auf dem Meeresboden lag. Und fruchtig ist es auch irgendwann, denn es macht ziemlich schnell betrunken, dieses Schiffsbier, vor allem wenn man es mit dem modernen Flens mischt. Steffi Unsleber
Metallackig
Eine kleine Episode der großen Globalisierungsgeschichte wird hier geschrieben. Mikrobiologen und Brauer aus Belgien rekonstruieren ein Bier und taufen das Produkt Stallhagen 1843, was wie eine germanophile Metalband aus Sizilien klingt. Doch so schön sich diese Narration auch entfaltet, so traurig ist ihre Realisierung. Dieses historische Bier schmeckt lack und fühlt sich im Bauch an, als habe man zu viel gegessen. Nach dem Genuss einer halben Flasche Stallhagen 1843 stellt sich zudem ein Gefühl von Bierernst ein. Das ist auch eine Pointe der Globalisierung: Es gibt den Fortschritt, zumindest beim Bier. Ulrich Gutmair
Sportsockig
Die Alltagsgeschichtsschreibung über das 19. Jahrhundert muss revidiert werden. Denn das 19. Jahrhundert schmeckt sockig. Stallhagen 1843 kommt beim ersten Schluck als Dünnbier daher, entfaltet aber im Nachgang eine leicht sportstrumpfartige Note. Nicht wie eine Tennissocke nach einem Fünf-Satz-Spiel, die plötzlich am Gaumen klebt. Eher wie ein Kinderstrümpfchen, das in einer überheizten Wohnung drei Tage lang im Pantoffel ruhte. Voller Neid verneigen sich der finnische Biber und die in die Jahre gekommene belgische Mayonnaise vor dem neuen König der Muffigkeit. Maik Söhler
Ausgebremst
Das Bier hat etwas von einem Coitus interruptus: kein Abgang, kein Höhepunkt, schal, ausgebremst. Der alte Finne ist nicht wirklich prickelnd, stattdessen erregt er nur wenige geschmackliche Zonen. Es fehlt ihm an Fülle und Geschmack. Dabei kommt das Bier so elegant im Piccolostil daher, im Glas verführerisch schäumend mit rötlichem Glanz. Es ist doch eher ein schlichtes Bier für Geschmacksverstärker gewöhnte Zungen, aber mit genug Alkoholgehalt, um ein flüchtiges Leuchten in finnischer Nacht auf unsere Wangen zu zaubern. Womöglich gewöhnt man sich sogar daran. Edith Kresta
Blümerant
Vom finalen Finale der Bierverkostung ist Folgendes zu berichten: Moderat angeschickert durch die süßliche Milde des Stallhagen 1843 wankte die Verfasserin dieser Zeilen in ein der Redaktion naheliegendes Nagelstudio und berichtete der guten Maniküredame ihres Vertrauens, dass sie soeben ein wundervoll leichtes, sehr blumiges und irgendwie sinnliches Getränk zu sich genommen habe, das aus einer mysteriösen nordischen Weltgegend namens Ålandinseln stamme. Da rief die Maniküredame: „Kippis!“, also Prost auf Finnisch, denn ihre Mutter war Thailänderin, ihr Vater aber ein Suome. Harriet Wolff
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