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Die WahrheitDer goldene Drachen

Kolumne
von Joachim Schulz

Manchmal kann der Diebstahl eines simplen Feuerzeugs die Welt retten und ein paar Knirpse um einen Berg Lakritzschnecken reicher machen.

U nvermittelt trat Raimund und mir ein Haufen Jungs in den Weg. „Mann!“, zischte der Boss der Bande und fixierte Raimund: „Wir warten und warten, und du vertrödelst hier die Zeit!“ – „Was wollen die Knirpse von dir?“, fragte ich. „Na ja … ich …“, murmelte er, und es war offenkundig, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte. Der Boss aber zischte: „Los jetzt, wenn wir nichts unternehmen, geht die Welt unter!“ – und Raimund schaute mich strahlend an und sagte: „Ich wollte es dir ja längst erzählen: Ich gehe neuerdings einem Job als Weltenretter nach.“

Er eilte den Jungs hinterher, und mir schien es ratsam zu sein, ihn nicht allein zu lassen. Wir liefen die Adalbertstraße hinunter und blieben am Holzmarkt stehen. Die Knirpse spähten hinüber zu Hökerhugos Kiosk, wo Hugo wie üblich auf seinem Tresen lehnte, rauchte und mit seinem Feuerzeug spielte. Hökerhugo war ein mit riesigen Muskelpaketen bepackter Bär. Er war dreißig Jahre lang zur See gefahren, und seinen Spitznamen hatte er bekommen, weil er von überall geheimnisvolle Kunstgegenstände mitbrachte und in dem Kiosk, der damals noch seinem Vater gehörte, verkaufte. Als der Vater starb, übernahm Hökerhugo die Bude, beschränkte sich fortan auf den Handel mit Zigaretten und Lakritzschnecken, erzählte aber jedem Kunden eine atemberaubende Geschichte von einem seiner Deals mit den Schamanen im Dschungel von Sumatra oder der chinesischen Porzellanmafia.

„Los jetzt“, knurrte der Boss, „du musst den Schlüssel vernichten!“ Raimund schaute ratlos zu Hökerhugo hinüber – doch plötzlich schien er zu begreifen. „Der Schlüssel, natürlich“, hauchte er, „es ist der Goldene Drache!“ – „Raimund“, beschwor ich ihn, „mach keinen Blödsinn!“ Er aber zog mich hinter sich her. „Ich muss den Goldenen Drachen vernichten“, sagte er, „und du musst Hugo ablenken!“

Der Goldene Drache war das Messingfeuerzeug, mit dem Hugo immer spielte. Es war das einzige Objekt, das er niemals zu verscherbeln versucht hatte, denn es war ihm von einem Shaolinmönch geschenkt worden, dem er bei einem Schiffbruch auf dem Jangtse das Leben gerettet hatte.

„Los!“, flüsterte Raimund, als wir vor dem Kiosk standen, und ich stotterte: „Äh …, hallo Hugo, einmal Camel ohne, bitte!“ – „Du rauchst wieder? Sehr gut!“, schnaufte Hugo, und als er sich umdrehte, schnappte Raimund sich das Feuerzeug. „He!“, brüllte Hugo: „Ihr Kanalratten! Gebt mir den Goldenen Drachen zurück!“

Wir rannten hinunter zum Fluss. Schon hörte ich Hugo hinter uns hecheln. Ich blickte mich um und sah die Knirpse Berge von Lakritzschnecken aus dem Kiosk mopsen, während Hugo näher kam. „Kanalratten!“, brüllte er nochmals und stürzte sich auf uns – doch da warf Raimund den Goldenen Drachen bereits in den Fluss, und als ich später im Krankenhaus erwachte, saß Raimund auf dem Bettrand und hielt mir – da er wegen einer bösen Kieferprellung nicht sprechen konnte – einen Zettel hin, auf dem zu lesen war: „Die Sonne scheint, die Erde dreht sich weiter – wir haben es geschafft!“

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