piwik no script img

Die WahrheitDas Rätsel des Verlierers

Der Wahrheit-Thriller. Nichts für schwache Lesernerven – rasante Action zwischen Rüsselsheim und Riad, Istanbul und Bad Honnef.

Bild: Nicolas Mahler

Als der Regional-Express 4260 in Rüsselsheim einrollte, entdeckte Helena Klostermann (62) auf einem verwaisten Sitz einen schwarzen Terminkalender und nahm ihn an sich. Auf der ersten Seite stand unter dem Namen des Eigentümers – Harald Wroslaw – und dessen Adresse eine Mobiltelefonnummer. Frau Klostermann wählte sie.

Der Mensch, der sich meldete, klang gehetzt: „Was ist denn nun schon wieder?“

„Herr Wroslaw?“

„Ja, wer denn sonst?“

„Mein Name ist Klostermann, und ich glaube, ich habe gerade Ihren Terminkalender gefunden. Den haben Sie wohl versehentlich im Zug liegen gelassen.“

„O Gott! Das darf doch nicht wahr sein! Und Sie haben ihn bei sich?“

„Ja.“

„Passen Sie auf – ich rufe Sie in ein paar Minuten zurück! Ich bin gerade am Einchecken!“

Eine Viertelstunde später setzte Herr Wroslaw Frau Klostermann, die soeben die S 9 nach Mainz-Kastel bestieg, seine Lage auseinander: Er fliege gleich nach Istanbul und sei dringend auf einige Telefonnummern angewiesen, die er dummerweise nicht gespeichert habe. Sie stünden hinten in seinem Kalender. Zunächst benötige er vor allem die Nummer von Herrn Bölükbaşı Süleymanoğlu …

„Kann ich Ihnen das Ding nicht einfach mit der Post schicken?“

„Nein! In Istanbul bin ich nur vorübergehend, und es ist von lebenswichtiger Bedeutung, dass Sie mir helfen! Sie sind meine Rettung!“

Frau Klostermann suchte zunächst lange unter S, bis Herr Wroslaw ihr mitteilte, dass sie unter B suchen müsse. „Das ist so ein Tick von mir, die Leute alphabetisch unter dem Vornamen einzutragen …“

Nachdem sie die zwölfstellige Nummer gefunden und sie Herrn Wroslaw penibel diktiert hatte, erbat er sich auch die in seinem Kalender stehenden Kontaktdaten eines Wettbüros in Marmaraereğlisi, einer Privatdetektei in Çerkezköy und eines Zementwerks in Mahmutşevketpaşa.

„Diese Nummern müssten Sie doch googeln können“, sagte Frau Klostermann.

„Theoretisch schon“, erwiderte Herr Wroslaw. „Aber mein Smartphone hat ein paar Macken, und ich bin erst heute Abend wieder online. Wären Sie so gut?“

Der nächste Anruf kam um Mitternacht.

„Wroslaw hier! Entschuldigen Sie die späte Störung! Ich brauche unbedingt die PIN, nein, Quatsch, den PUK für meine SIM-Card! Der müsste links vorn im Einbanddeckel stehen! Direkt unter der PIN!“

Es fiel der weitsichtigen Frau Klostermann, die bereits seit drei Stunden geschlafen hatte, nicht ganz leicht, Herrn Wroslaw auch diesen Wunsch zu erfüllen. Danach sank sie zurück ins Bett und wurde um drei Uhr morgens abermals telefonisch geweckt.

„Sorry! In der Nummer von Bölükbaşı Süleymanoğlu muss ein Zahlendreher dringewesen sein. Können Sie mir die noch einmal ganz genau durchgeben? Ziffer für Ziffer?“

Frau Klostermann tat wie geheißen und schlummerte wieder ein, wenn auch nur für sechzig Sekunden.

„Eine leider sehr eilige Sache!“ schrie Herr Wroslaw. „Irgendwo in der Mitte meines Terminkalenders liegt ein Parkschein, und ich muss wissen, auf welches Datum und auf welche Uhrzeit der ausgestellt worden ist!“

Da ihr das Blättern zu mühsam war, schüttelte Frau Klostermann den Kalender aus. Diverse Papiere trudelten zu Boden.

„Haben Sie den Parkschein?“

„Warten Sie mal … ich glaube schon …“

„Was steht da als Ankunftszeit?“

„Ankunftzeit … äh … zwölf Uhr drei. Ausgestellt am einunddreißigsten März.“

„Sind Sie sicher?“

Frau Klostermann studierte den Parkschein von Neuem und sagte, dass sie sicher sei.

„Ganz sicher?“

„Ja.“

„Sie sind ein Schatz! Ich schulde Ihnen was!“

Die folgenden zwölf Stunden verliefen ruhig. Dann ging es wieder los: „Hier Wroslaw! Können Sie mich verstehen?“

„Nur sehr schlecht …“

„Ich bin in Riad gelandet. Frau Klostermann, in meinem Kalender befindet sich auch eine Apothekenquittung! Können Sie mal nachschauen? Alles, was ich wissen möchte, ist die Höhe der im Preis enthaltenen Mehrwertsteuer! Waren das neunzehn Prozent oder sieben Prozent?“

Frau Klostermann klaubte eines der Papiere vom Fußboden auf. „Löwen-Apotheke“ stand da. „Privatrezept … Linola Gamma Creme … PZN: 00670290 … 100 g (19,90 €) …“

„Sind Sie noch dran?“

„Jaja, Herr Wroslaw … ich hab’s: Zahlbetrag neunzehnneunzig und darin enthalten neunzehn Prozent Mehrwertsteuer. Insgesamt drei Euro achtzehn. Aber warum ist denn das um Gottes willen so wichtig für Sie?“

„Das erkläre ich Ihnen später! Und bleiben Sie bitte auf Empfang! Sie glauben ja nicht, was davon alles abhängt!“

Zu den auf den Boden gerieselten Dokumenten gehörte auch ein handschriftlicher Brief. Frau Klostermann hob ihn auf und las ihn am Küchentisch bei einer Tasse Fencheltee.

„Mein lieber Harald – es ist aus! Ich liebe Bölükbaşı, das weißt Du, und ich liebe auch Dich. Der Mann, den ich am 31. März vom Bahnhof abgeholt habe, ist aber nicht Bölükbaşı gewesen, sondern Rashad, und der Geheimcode, den er mir in der Quittung übermittelt hat, geht weder Dich noch Bölükbaşı was an. Vergiss mich, wenn Du kannst! Deine Barbara.“

Während Frau Klostermann noch darüber nachdachte, klingelte ihr Telefon.

„Klostermann?“

„Schmiedinger, Löwen-Apotheke! Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie die Bestellung für Herrn Süleymanoğlu jetzt abholen können!“

„Von wem sollen Sie mir das ausrichten?“

„Vom Chef!“

„Und wer ist Ihr Chef?“

„Rashad al-Marzouki.“

„Und Ihr Name ist ??“

„Sabine Schmiedinger.“

„Und wie kommen Sie oder Ihr Chef eigentlich darauf, dass ich bei Ihnen etwas für diesen Herrn Süleymanoğlu abzuholen hätte?“

„Das steht halt hier so auf dem Begleitschein.“

„Ich bin zufälligerweise im Besitz einer Quittung von Ihnen. Daraus geht hervor, dass Ihre Apotheke sich in Bad Honnef befindet. Ist das richtig?“

An dieser Stelle wurde das Gespräch unterbrochen, und Frau Klostermann stand eine halbe Stunde lang vor einem Rätsel, das sich auch nicht löste, als sie aus Kairo den Anruf eines Mannes erhielt, der ihr 300.000 Euro für das Original der Apothekenrechnung bot und dann plötzlich verstummte.

Um sich Klarheit zu verschaffen, reiste Frau Klostermann anderntags nach Bad Honnef und verlangte in der Löwen-Apotheke Herrn Rashad al-Marzouki zu sprechen.

„Der Chef ist außer Haus“, sagte die Angestellte, die am Tresen stand. „Was kann ich für Sie tun?“

„Sind Sie Frau Schmiedinger?“ fragte Frau Klostermann.

In den Augen der Angestellten blitzte es auf. „Das hat Ihnen der Teufel gesagt!“, schrie sie. „Hier haben Sie die Bestellung für Herrn Süleymanoğlu!“

Ungeachtet ihres Alters entzog Frau Klostermann sich durch eine rasche Rolle rückwärts dem Maschinengewehrfeuer, das Sabine Schmiedinger eröffnete. Die Schüsse peitschten quer durch die Regale und brachten einen Drehständer mit Hustenbonbons der Marken Ricola, Pulmoll, Krügerol, Pectoral und Pinimenthol zu Fall. Ein schönes Durcheinander!

Im selben Moment durchstieß ein allradangetriebener Geländetruck die Rückwand der Apotheke. Zehn bis zwanzig uniformierte Scharfschützen sprangen aus dem Gefährt heraus und schossen auf Frau Klostermann, die sich jedoch retten konnte, indem sie sich auf ein scheinbar herrenloses Klapprad schwang und entschwand.

Bei der daraufhin einsetzenden Verfolgungsjagd verloren mehrere Menschen ihr Leben: Albert Liebig, Günther Eitz, Hans Panzner, Marianne Teckner, Uwe Schneckerle, Hans-Georg Rüsch, Beate Gopfert, Rashad al-Marzouki, Sabine Schmiedinger, Bölükbaşı Süleymanoğlu und Barbara Ditzenbach. Helene Klostermann überlebte wie durch ein Wunder und heiratete zwei Jahre später einen verwitweten Mineralogen aus Ulm. Von Harald Wroslaw hat man hingegen nie wieder etwas vernommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!