■ André Brink: Südafrika nach dem Mord an Chris Hani
: Die Taube im Grab

Als Chris Hani, Anti-Apartheid-Kämpfer und Führer der Südafrikanischen Kommunistischen Partei, beerdigt wurde, flatterte eine der von den Angehörigen mitgebrachten weißen Tauben nicht in den klaren Himmel, sondern hinunter ins Grab. War dies Symbol für die Bedeutung des Augenblicks?

Südafrika ist in seiner jüngsten Geschichte durch schreckliche Ereignisse geschlittert – man denke nur an die Massaker von Boipatong und Bisho im Jahre 1992. Aber man kann für die am seidenen Faden hängenden Hoffnungen des Landes auf eine freie, demokratische Zukunft nur schwer einen vernichtenderen Moment finden als Hanis Tod. Seit Sharpeville 1960 und, noch dringlicher, seit dem Soweto-Aufstand und dem Mord an Steve Biko 1976 war es oftmals schwer, der Verzweiflung zu widerstehen. Durch viele dieser Krisen half mir ein Wort des Großen Rabbis von Paris: „Verzweifeln“, sagte er, „ist eine Beleidigung der Zukunft.“ Aber diesmal ist es schwerer, diesen Worten die Magie zu entlocken. Der Mord an Hani schien die Grenzen der Vernunft zu überschreiten: ein schwarzes Loch, vorweggenommen vielleicht vom Afrikaans- Dichter Ernst van Heerden in seinen neueren Zeilen über eine Zeit, „in der selbst unsere Träume / die Menschheit erniedrigen und verraten“.

Die Wirkung des Mordes ist so niederschmetternd, weil er zu einer Zeit geschah, als zum ersten Mal Südafrikaner – von der radikalen Rechten bis zur extremen Linken – endlich aus einer endlosen Gewaltspirale herauszufinden schienen. Anders als die unrealistische Euphorie, die nach dem weißen Referendum vor genau einem Jahr das Land befiel, gründeten sich die neuen Anzeichen eines Triumphes der Vernunft über die Gewalt auf realistische Überlegungen. Zerstört wurde an diesem Osterwochenende, in diesem schwarzen Loch zwischen Kreuzigung und Auferstehung, nicht bloß ein außergewöhnlicher Mensch, sondern auch ein einmaliger Führer mit charismatischem Zugang zu einer aufgewühlten „verlorenen Generation“ schwarzer Jugendlicher. Negiert wurde die Stimme der Vernunft selbst. Hani, der Shakespeares gesammelte Werke mit aufs Schlachtfeld trug, war das Symbol des Tatenmenschen, inspiriert vom Glauben, daß wir nicht nur durch das Schwert leben, sondern auch durch das Wort. Ihm gelang die Versöhnung des sonst Unvereinbaren. Seine Ermordung warf die Kräfte des Schwertes und des Wortes auf gefahrvolle Weise zurück in gegenseitige Ausgrenzung und Feindschaft. Wieder einmal, doch fataler als je zuvor, kehrt Südafrika in diesen Zustand, den Sartre „die Entmenschlichung des Unterdrückten“ und „die Entfremdung des Unterdrückers“ nannte, zurück.

Als de Klerk mit der Nachricht des schwarzen Zorns nach dem Mord konfrontiert wurde, war seine instinktive Reaktion die Einberufung des Staatssicherheitsrates. Nichts hat diesen Mann so gnadenlos als den kleinlichen und bösartigen Sicherheitsfanatiker entlarvt, der er ist, wie die Ereignisse, die Südafrika seit dem 10. April erschüttern. Wie Chestertons Esel hatte de Klerk sein Erfolgserlebnis, als es schien, er könne den Lauf der Geschichte verändern. Inzwischen hat die Geschichte ihn größtenteils überholt. Sein Denken, und das seines ganzen verdammten Regimes, gründet noch immer ausschließlich auf dem Prinzip „die und wir“; da er in krimineller Weise ausblendet, was die Mehrheit der Südafrikaner bewegt, erlaubte er dieser dunklen Woche zwischen Mord und Begräbnis, ihren Lauf zu nehmen. Es wäre so einfach gewesen! Hätte er einen nationalen Trauertag für das ganze Land angeordnet, dann hätte er ganz Südafrika in einen gemeinschaftlichen Akt der Buße und Nachdenklichkeit geführt; es hätte ihm dies das Wohlwollen der Mehrheit der Schwarzen gebracht.

Bei Hanis Beerdigung, der größten in der Geschichte des Landes, war die Regierung nicht einmal vertreten. Sie habe, erklärte de Klerk, ihr Beleid bereits in angebrachter Weise ausgedrückt. Dieser Moment bedeutete die endgültige Absage des gegenwärtigen Regimes an Weitsicht, an Würde, sogar an den einfachen Anstand. Und de Klerk ist sich dessen nicht einmal bewußt. Er ist ein Gefangener der Apartheid, zu deren Fortdauern er so lange beitrug; ein Gefangener seiner eigenen weißen Haut; ein Gefangener der Geschichte im engsten und einfachsten Sinne. In seinem Vorgänger Botha war apokalyptische Arroganz spürbar. In de Klerk ist es nur noch Ignoranz. Ignoranz gegenüber der eigenen Vergänglichkeit und der des Regimes. Das ist der Kern des historischen Schweigens, der im Herzen des gegenwärtigen Lärms schlummert: das Schweigen, das Weiß und Schwarz auseinanderhält, das Schweigen des Unwissens und der Unvernunft – des Unwillens zu wissen.

Nelson Mandela hingegen nahm nach Hanis Ermordung eine Statur und Würde an, die es als normal erscheinen ließ, daß er bei der Beerdigung als „Südafrikas Präsident“ vorgestellt wurde. Die Art, wie er in Hanis Todesnacht die Fernsehansprache an das Land übernahm, untermauerte diese Autorität. Doch wie Mandela das Grab betrachtete, in das Hanis Sarg gelassen wurde, ließ ahnen, daß er seinen eigenen Tod gesehen hatte. Unter den Teilnehmern der Zeremonie am 14. April waren viele Jugendliche, die buhten, als Mandela von Versöhnung sprach. Nie zuvor wurde die Generationenlücke im ANC so vernichtend deutlich. Als verzweifelte Geste zur Wiedergewinnung der jugendlichen Sympathie kündigte Mandela ein Programm kontinuierlicher „Massenaktionen“ an, um die Verkündung eines festen Termins für Wahlen und eine Übergangsregierung zu erzwingen – worauf sich ANC und die Minderheitsregierung längst geeinigt haben.

Man mag berechtigterweise aus dieser Ankündigung herauslesen, daß de Klerk zuwenig weiß und Mandela zuviel; das heißt: wenn Mandela nunmehr auch das historische Schweigen verkörpert, ist er ebenfalls Gefangener einer sich entfaltenden Geschichte, besonders wenn Geschichte in der Formulierung von Friedrich Engels gesehen wird: als Summe vieler Willen, als Enttäuschung jeder einzelnen Intention. Aber die Geschichte ist auch, wie Roland Barthes bemerkt hat, ein Entscheidungsprozeß – mit Grenzen. Zumindest teilweise sind diese Grenzen durch de Klerks Glauben an seine Unvergänglichkeit und Mandelas Akzeptanz seiner Sterblichkeit gesetzt. Die Entscheidung liegt dazwischen. Zu diesem Zeitpunkt ist es unmöglich zu sagen, welchen Weg das Land einschlagen wird.

Bei der Wahl von Optionen ist es hilfreich zu wissen, daß Südafrikaner in vergangenen Krisenmomenten erstaunlich zäh waren; Wir sind eine gewalttätige Gattung; aber die Menschheit – auch Südafrika – hat bewiesen, daß sie Gewalt überwinden kann. Wenn wir über Auschwitz und die Morde an Gandhi und Martin Luther King triumphiert haben, können wir auch aus dem Schatten der Apartheid und des Todes von Chris Hani heraustreten. Es ist überhaupt nicht sicher, daß Vernunft, Güte oder Rechtschaffenheit triumphieren werden. Aber sie können es.

Bevor Hanis Sarg zur endgültigen Ruhe gebettet wurde, stieg ein Soldat der ANC-Armee Umkhonto we Sizwe ins Grab hinab, um die verirrte weiße Taube zu befreien. Auch dies sollte in Erinnerung bleiben.

bekannter südafrikanischer Schriftsteller. Aus „The Guardian“, 26.4.1993.

Übersetzung: Dominic Johnson