Die Stadt nach dem Inzest-Drama: In den Gassen von Amstetten
Über ein paar Ecken kennt jeder jeden im österreichischen Amstetten - auch Familie F. Nach dem Inzest-Drama diskutieren die Bewohner, ob man hätte etwas merken müssen.
Das Geständnis des 73-jährigen Josef F. und die Aussage seiner Tochter Elisabeth sind nun auch bewiesen. Der Leiter des Landeskriminalamtes Niederösterreich, Polzer, gab am Dienstag bekannt, dass die DNA-Proben der im Verlies geborenen Kinder die Vaterschaft des Beschuldigten belegen. Als weiterer Beweis dient ein Brief, den er in Oberösterreich an sich selbst abgesandt hat. Darin kündigt die vermeintlich verschwundene Tochter an, demnächst mit zwei Söhnen nach Hause zurückkehren zu wollen.
F. muss mit hohen Haftstrafen rechnen. Die Behörden ermitteln wegen "Mordes durch Unterlassung", allein dieses Vergehen kann mit Gefängnis von zehn Jahren bis lebenslang bestraft werden. Darüber hinaus muss F. mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen, weil er seine Tochter jahrzehntelang vergewaltigt und missbraucht hat. Hinzu kommt Freiheitsberaubung.
Eine Schulfreundin der eingesperrten Elisabeth F. hat ausgesagt, die Brutalität des Vaters sei kein Geheimnis gewesen. "Irgendwann drischt uns die Drecksau noch tot", soll ein Bruder der Missbrauchten seinerzeit gesagt haben.
Untersucht wird noch das Verlies. Insbesondere die 300 Kilo schwere Stahlbetontür kann F. kaum allein befördert und montiert haben.
"Jetzt ist Amstetten berühmt in aller Welt." Der schlaksige Jugendliche mit dem Piercing in der Unterlippe lehnt am Gartenzaun. Interessiert beobachtet er die Kamerateams aus aller Welt, die in der schmalen Dammstraße Position bezogen haben. Stoßstange an Stoßstange stehen die Übertragungsbusse, für den Durchgangsverkehr ist der Weg gesperrt. Von hier aus hat man den besten Blick auf die bunkerartige Hinterfront des Hauses, wo bis vor wenigen Tagen der 73-jährige Josef F. und seine Familie gewohnt haben. Man schaut in den Garten, unter dem sich das Verlies befindet, das inzwischen die ganze Welt kennt.
Dort hat F. 24 Jahre lang seine heute 42 Jahre alte Tochter Elisabeth gefangen gehalten und sexuell missbraucht. Sieben Kinder hat er mit ihr gezeugt und drei von ihnen - zwei Söhne und eine Tochter - gezwungen, ihr gesamtes bisheriges Leben in den fensterlosen Zellen zu verbringen. Am Montagabend ist der Mann in die Justizanstalt St. Pölten gebracht worden. Dort, das hat der Leiter der JVA mitgeteilt, wird er nun vor Übergriffen durch Mitgefangene geschützt.
Hannes Fehringer ist Lokalreporter der Oberösterreichischen Nachrichten. Er, der sonst über neue Straßenlaternen oder den ersten Spatenstich für eine Sporthalle schreibt, nennt die Dammstraße abfällig einen "Rummelplatz - fehlen nur mehr die Pommesbuden". Diese Art von Journalismus findet er "zum Kotzen".
Hier in Amstetten, sagt ein Freund des Gepiercten, habe es schon vor dieser Sache nichts gegeben, worauf man stolz sein konnte. Wie fast jeder im Ort kennt er über ein, zwei Ecken eines der Mädchen aus der Familie F. Sechstausend Menschen leben im Ortskern, wenn sich Gleichaltrige nicht aus der Schule kennen, dann vom Sportverein oder von der Freiwilligen Feuerwehr. "Jetzt kann man nur weggehen", mault er. Nach Abschluss seiner Berufsausbildung hat er das auch fest vor. "Nicht einmal ausgehen kann man hier".
"Genieren muss man sich"
Die 23.000-Einwohner-Stadt, 120 Kilometer westlich von Wien gelegen, macht tatsächlich nicht den Eindruck, als ginge hier die Post ab. Sehr ruhig ist es am Abend auf dem langgestreckten Platz in der Ortsmitte, aus der Disco "Bazooka" dringen gedämpfte Technobässe. Barocke Fassaden, wie sie sonst die Märkte in Provinzstädten zieren, fehlen in Amstetten, wegen ihrer Lage an einem Eisenbahnknotenpunkt wurde die Stadt in den letzten Kriegstagen stark bombardiert. Neben dem Brunnen mit dem Stadtwappen lädt ein Plakat der SPÖ für den 30. April zum Maifest ein. Eine Rede des Landeshauptmannstellvertreters sowie ein Festzug mit der Stadtkapelle werden in Aussicht gestellt, nach dem Maibaumsetzen soll es zum "Dämmerschoppen" in den Stadtbrauhof gehen.
Dort warten an diesem Abend zwei britische Journalisten auf ihr Bier. Die Presseleute, die sämtliche Hotelzimmer im Ort in Beschlag genommen haben, werden von den Einheimischen aus der Distanz beobachtet. "Genieren muss man sich als Amstettner", sagt Johann Lichtenschopf. Wenn der Vizeleutnant beim Bundesheer auf dem Nachhauseweg die belagerte Dammstraße passiert, "komme ich mir vor wie im Fahrerlager von der Formel I". Er wohnt nur wenige Häuser entfernt von Josef F., immer wieder hat er ihn beim Spar in der Ybbsstraße gesehen.
Gut gekannt aber hat den Mann offenbar kaum jemand. Bis zu seiner Pensionierung stand er im Ruf, ein tüchtiger Arbeiter zu sein, eine Stütze seines Betriebs, als Fachmann für Elektromechanik. Ohne diese Spezialkenntnisse, man kann es sich denken, hätte er kaum die raffinierte Geheimtür zum Verlies seiner Tochter bauen können.
Lichtenschopf kann es noch immer nicht fassen: "Tragisch so was, als Amstettner trifft mich das." Der letzte Mord, erzählt er, liege dreißig Jahre zurück. Eine Jugendliche sei kurz vor Weihnachten ermordet aufgefunden worden, vermutlich ein Sexualdelikt. "Bildhübsch!", sagt er immer wieder bei der Erinnerung an das Lehrmädchen aus dem Supermarkt. Sie könne nur wenig älter gewesen sein als Elisabeth F., deren Martyrium damals gerade begann, als der Vater immer wieder in ihr Schlafzimmer schlich. Der Mörder sei wenig später gefasst worden, erinnert sich der Unteroffizier, die Polizei musste ihn vor dem wütenden Mob schützen. Seither ist nur noch ein Amstettner gewaltsam zu Tode gekommen. Aber das sei etwas anderes gewesen: betrunkene "Buam" hätten bei einem Zeltfest zu fest mit ihren Stahlkappenschuhen zugetreten.
Die Stadt ist eine der wenigen sozialdemokratisch regierten Gemeinden im tiefschwarzen Niederösterreich. Hier hat sich ein Industrieproletariat entwickelt, "aber auch alte Nazis gibt es viele", sagt Franz Sieder. Er ist der Betriebsseelsorger von Amstetten. Als er vor Jahren mit Schülern Plakataktionen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit initiiert hat, hagelte es Beschimpfungen: "In der Schule trafen gemeinste Briefe ein." Aber das Inzestdrama, das sich hier 24 Jahre lang abgespielt hat, "das hätte in jeder Stadt in Österreich passieren können". Dass so lange niemand aufmerksam wurde, hat für ihn damit zu tun, dass "den Leuten die Nachbarn immer mehr wurscht sind". Für ihn als Pfarrer beweist der Fall, "dass es das Böse gibt". Aus vertraulichen Gesprächen wisse er, dass Inzest und sexueller Missbrauch in den Familien viel häufiger vorkämen, als man meint.
McGyver fragt nach
Amstetten hat aber auch ein freundliches Gesicht. Im Jahr 2006 wurde die Gemeinde zum dritten Mal mit dem Prädikat "Innovativste Gemeinde Österreichs" ausgezeichnet. "Amstetten 2010+" heißt das prämierte Energiekonzept, es sieht die langfristige Versorgung mit Alternativenergien vor. Wärmedämmung und Umstieg auf Fernwärme werden ebenso gefördert wie Umweltberatung, erklärt Friedrich Heigl von der Umweltberatungsstelle. Schon jetzt beziehen die Privathaushalte Strom und Wärme aus erneuerbaren Energiequellen.
Der provinziellen Enge versucht der Kulturverein etwas entgegenzusetzen. Heigl meint sogar, es gebe hier so viele Veranstaltungen, dass man gar nicht alle besuchen könne. Das Massenpublikum wird durch populäre Musicals im Sommer und gelegentliche Konzerte in der Eishalle angelockt. Aber auch Anspruchsvollere müssen nicht darben, im Szene-Café "Zum Kuckuck" haben die Intellektuellen ihren Ort gefunden.
Natürlich kommt auch hier die Rede auf das Thema Nummer eins. Lokalreporter Fehringer, von Freunden McGyver gerufen, hat im Rathaus nachgefragt, ob es für das Verlies der F.s eine Baugenehmigung gegeben hat. In den 80er Jahren, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, wurden in Österreich Schutzbunker mit Steuergeldern gefördert, deshalb hat die Baubehörde Amstetten 1983, ein Jahr vor der Einkerkerung von Elisabeth F., die Anlage besichtigt und bewilligt. Die Gäste im "Kuckuck" diskutieren, ob man hätte misstrauisch werden können. Ein Mann meint, der tyrannische Vater habe seine missbrauchte Tochter und die gemeinsamen Kinder "geliebt - sonst hätte er sie ja umgebracht. Das wäre unkomplizierter gewesen." Ein Dritter fragt, warum der Mann keine Verhütungsmittel benutzt habe: "Das muss der Einfluss der Katholischen Kirche sein."
In der Dammstraße bauen unterdessen die Teams ihre Technik ab. Schaulustige aus Nachbargemeinden, die sich vor den ausländischen Kameras als Nachbarn ausgegeben haben, um ins Fernsehen zu kommen, irren durch den Ort. Sie haben sich verlaufen. Amstettens fünf Minuten Berühmtheit sind vorbei. Aber der Name der Stadt wird wohl wie Erfurt oder Bhopal für lange Zeit mit einem unfassbaren Verbrechen verbunden bleiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“