Die Spitzenkandidatin der SPD: Andrea Ypsilanti will es schaffen
Gerade war sie noch eine charmante, aber aussichtslose Alternative. Plötzlich ist Andrea Ypsilanti populärer als der Ministerpräsident. Die hessische SPD ist mächtig stolz auf ihre Andrea.
Es läuft gerade prächtig für sie. Wann hat es das schon gegeben in Hessen, dass eine Woche vor der Landtagswahl die Herausforderin in den Umfragen populärer ist als der Ministerpräsident? Plötzlich ist die SPD mächtig stolz auf ihre Andrea Ypsilanti. Lange galt sie als Notlösung: im Land unbekannt, wegen ihrer dezidiert linken Positionen umstritten, angesichts der Stärke Roland Kochs nur eine Zählkandidatin. Wenn auch eine ausgesprochen aparte. Und jetzt? Käme sie bei einer Direktabstimmung über das Regierungsoberhaupt auf satte 48 Prozent; 10 Prozent mehr als Koch, den sonst höchstens Debatten über seine Kanzlerqualitäten quälen!
1986: Die Soziologiestudentin Andrea Ypsilanti aus Rüsselsheim wird mit 29 Jahren Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Fünf Jahre später ist sie Juso-Landesvorsitzende, als erste Frau in Hessen. Bundesweite Bekanntheit erlangt Ypsilanti mit ihren dezidiert linken Positionen und später mit ihrer parteiinternen Kritik an der Agendapolitik der rot-grünen Bundesregierung.
Dezember 2006: Mit einer emotionalen Rede über ihre Herkunft als Arbeiterkind setzt sich Andrea Ypsilanti - mittlerweile SPD-Landesvorsitzende - auf dem Parteitag in Rotenburg überraschend als Spitzenkandidatin für die hessische Landtagswahl durch. Ihr parteiinterner Widersacher und Favorit der hessischen SPD-Unterbezirke, Jürgen Walter, muss daraufhin auch seinen Fraktionsvorsitz im Landtag an sie abgeben.
27. Januar 2008: Bei der hessischen Landtagswahl will die SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti das CDU-Schwergewicht Roland Koch aus dem Amt des Ministerpräsidenten jagen. Ihre Chancen stehen überraschend gut.
Es hat andere Momente gegeben in diesem erstaunlichsten der drei Landtagswahlkämpfe dieses Winters. Momente, die vieles nahe legten. Aber nicht, dass Andrea Ypsilanti am 27. Januar ernste Chancen haben würde.
An einem Nachmittag in der Vorweihnachtszeit klingelt das Autohandy des hessischen SPD-Pressesprechers. Es ist der Fraktionsgeschäftsführer aus Wiesbaden, er hat schlechte Nachrichten: Die SPD im Bund bei 24 Prozent, das ZDF verlangt Erklärungen: "Andrea soll ins 'Morgenmagazin'." Sie habe aber keine Lust, entgegnet ihr Sprecher, Positionen der Partei schönzureden, die sie selbst für fatal gehalten habe, Hartz IV, Rente mit 67. Die Absage klingt wie: Sollen Steinmeier, Steinbrück und die anderen Großkopferten in Berlin toben. In deren Augen ist sie doch seit dem Streit um die Agendapolitik ohnehin bloß "die Frau XY". Der Fraktionsgeschäftsführer, eisig: "Sie ist im SPD-Präsidium. Sie ist Spitzenkandidatin. Sie kann nicht immer kneifen."
Andrea Ypsilanti ist da gerade auf dem Weg zu einem anderen Interview, Rechtsextremismus in Hessen gehört überhaupt nicht zu ihren zentralen Wahlkampfthemen. Die nämlich sind Bildungsgerechtigkeit, erneuerbare Energien, Mindestlohn. Irgendwie laviert sie sich durch, nicht ohne den TV-Reporter anzuraunzen: "Ich kann jetzt nicht die hessischen Präventionsprogramme aus dem Ärmel schütteln." Sie hat Glück. Der Reporter stellt gnädige Fragen.
Andrea Ypsilanti, 50 Jahre, geschieden. Freund, Kind, Leben in der WG in einem ländlichen Stadtteil Frankfurts. In der Riege der ProfipolitikerInnen überrascht sie durch Eigenwilligkeit: Ihre Prinzipientreue stellt sie zuweilen über die Parteidisziplin; es macht ihr wenig aus, auch Fehler zu machen. "Ich bin bereit, dazuzulernen", sagt sie über sich.
Andrea Ypsilanti ist keine Frau, die sich aufdrängt. Die Pressegespräche nach ihren Wahlkampfauftritten überlässt sie gern regionalen Abgeordneten. Ihre Reden klingen häufig mehr selbst geschrieben denn geschliffen. Zahlen? Statistiken? Kann man nachreichen, oder? Ihr Regierungsprogramm? Kostet halt 290 Millionen Euro mehr, ohne dass detailliert geklärt wäre, woher das Geld kommen soll. Ihre Argumente sind dadurch nicht schlechter. Es geht ihr um ein sozial gerechtes Hessen, in dem kein Kind, kein Arbeitsloser abgehängt wird, es geht ihr um die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie, es geht ihr um die Teilhabe aller am Wohlstand des Landes.
Auf Wahlveranstaltungen vor Rentnern oder jungen Eltern wird das selten hinterfragt. Von ihren hessischen Genossen sowieso nicht. Die hat sie Ségolène-Royal-mäßig mitbestimmen lassen über das Programm in einem transparent-demokratischen Prozess. So was schafft Sympathie.
Was aber, wenn sie sich demnächst tatsächlich in einer wie auch immer gearteten Regierungskoalition durchsetzen muss? "Sie wird einen Makler der Macht brauchen", prophezeit einer, der sie lange kennt und nicht verdächtig ist, ihr das Scheitern zu wünschen. "Sonst geht sie unter."
"Die Leute sollen merken, dass das, worüber ich rede, Lebenserfahrung ist", entgegnet sie trotzig. "Meine Programme sind biografisch hinterlegt." Andrea Ypsilantis Vita als Grundlage sozialdemokratischer Politik? Sie leistet sich solche angreifbaren Aussagen, ebenso wie ihren südhessischen Akzent.
"Ich kann mir vorstellen, dass Andrea zuweilen unterschätzt wird", sagt die Gießener SPD-Unterbezirkschefin Astrid Eibelshäuser, die Ypsilanti seit Juso-Tagen kennt: "Bei uns war dagegen immer klar, dass sie es in die erste Reihe schafft." "Zu ihren Stärken gehört, dass sie ist, wie sie ist", sagt der ehemalige SPD-Regierungssprecher Klaus-Peter Schmidt-Deguelle, der mit Ypsilanti als Referentin 1992 in der hessischen Staatskanzlei gearbeitet hat: "Sie hat es geschafft, mit ihrer Positionierung nach links innerhalb der Partei eine verloren geglaubte Identität wiederherzustellen." "Andrea schaut zweimal hin, bevor sie eine Meinung hat", sagt die Freundin Yvonne Ott, die Ypsilanti in einer SPD-Frauengruppe der 80er-Jahre traf.
Machtstreben, Authentizität, Standhaftigkeit. Das allein schlägt kein Schwergewicht wie Roland Koch. Andrea Ypsilanti ist auch deswegen plötzlich so populär, weil Koch, dieser Mann mit dem bemerkenswerten politischen Instinkt, Fehler gemacht hat. Nachdem sein Horrorszenario von der drohenden Linksfront nicht wirklich beeindruckt hatte, hatte er lange kein Offensivthema. Anders als Ypsilanti mit ihrem Mindestlohn und ihren Angriffen auf die CDU-Schulpolitik. Als er endlich seine Kampagne gegen jugendliche Straftäter und Ausländer gefunden hatte, wurde diese selbst von Befürwortern härterer Gangarten als Wahlkampfgetöse erkannt und von seinen eigenen Kriminalitätsstatistiken diskreditiert. Ohnehin ist es schwierig, nach neun Jahren an der Macht Wandel und Aufbruch glaubhaft zu verkörpern. Manchmal wollen Wähler einfach ein neues Gesicht.
Andrea Ypsilanti freilich schreibt ihre guten Umfragewerte ihrer Profilierung zu: "Es ist ein Vorteil, dass wir so gegensätzlich sind, da kann man richtig polarisieren." Fotogene Frau contra Hardliner. Wärme und Moderne contra neoliberal-konservatives Ego-Image. Offenheit und Transparenz contra Politkultur des schieren Machtgebarens. Aber reicht das? Andrea Ypsilanti in Hessen, das war bis vor kurzem wie Ute Vogt in Baden-Württemberg: eine charmante Alternative. Aber aussichtslos. Die SPD verheizt gern Frauen für solche Kandidaturen. Ypsilanti weiß das: "Das ist ein Fakt, den man so feststellen muss", sagt sie. Es folgt eine Wuttirade auf männlich geprägte Politikstrukturen. Dabei, findet sie, seien Frauen in Wirklichkeit oft "viel mutiger" und damit geeigneter. Viele Wähler hätten das erkannt. Der Beweis: sie selbst. Wirklich?
Dass es für sie wider Erwarten besser läuft als für Vogt, liegt auch an dem temporären Linksschwenk in Deutschland: Soziale Gerechtigkeit ist ein Thema. Und Andrea Ypsilanti seine ideale Verkörperung.
Rüsselsheim-Königstädten. Dreistöckige Arbeiterblocks, bescheidene Reihenhäuser, ein Einkaufszentrum mit Lotterie-Annahmestelle, Apotheke, Stadtbücherei und dem obligatorischen Griechen. Der Bus in die Innenstadt verkehrt am Wochenende stündlich. Es ist nicht leicht, wegzukommen. Andrea Ypsilanti ist hier als mittlere von drei Töchtern aufgewachsen, die Mutter Hausfrau, der Vater arbeitet im nahen Opel-Werk. Seiner Tochter sagt er: "Eine Lehre auf der Sparkasse, das ist das Größte, und was brauchst du Abitur, du heiratest ja doch."
Das Mädchen Andrea Dill, so heißt sie damals, hat andere Pläne, keine politischen, woher denn, "mein Vater war zwar in der Gewerkschaft, aber er hat nicht gemeint, er müsse mit seinen Töchtern Politik diskutieren". Sie ist wissbegierig, sie träumt von einem anderen Leben als das ihrer Mutter. "Selbstbestimmt" nennt sie das heute. Es sind ihre Lehrer, die die Weichen stellen: Sie beknien die Eltern, lassen Sie die Tochter Abitur machen, es sind die 70er-Jahre, in Hessen regiert die SPD, ihr Motto: Bildung für Arbeiterkinder. Ypsilantis heutige Dankbarkeit, ihre Loyalität gegenüber der Partei gründen hierauf.
Nach dem Abitur jobbt sie, ein Studium ist nicht drin. Sie heiratet einen Griechen, sie folgt ihm nach Spanien, sie wird Stewardess und schaut sich die Welt an. Indien, Hongkong, China. Wer aus Königstädten ist je dort gewesen? Politik? Andrea Ypsilanti reicht die "Tagesschau".
Erst als die Ypsilantis nach Hessen zurückkehren, gibt sie ihrem Leben die 180-Grad-Wende: Trennung von ihrem Ehemann, bald darauf die Scheidung. Soziologiestudium in Frankfurt. Eintritt in die SPD. 1986 ist das, Ypsilanti ist 29 Jahre alt und will "einen Neuanfang". Es ist ein Bruch, wie er größer kaum sein könnte, er wirft Fragen auf. Andrea Ypsilanti versucht sie wegzulächeln: "Das ist alles so lange her." Man kann fragen, wie man will, es kommt nichts Substanzielles heraus. Sie, die gerade noch ungefragt über so Intimes wie ihre Stillerfahrungen als "späte Mutter" eines heute zwölfjährigen Sohns plauderte, der dann trotzdem Neurodermitis bekommen habe, macht jetzt dicht.
Offenherzig und unnahbar: Andrea Ypsilanti ist beides zugleich. Dass sie, die Kämpferin für Bildungsgerechtigkeit, ihren Sohn beispielsweise auf eine teure Privatschule schickt, ist auch so ein Thema, das sie lieber schnell beendet: In erreichbarer Nähe gebe es eben keine öffentliche Ganztagsschule. Basta. Doch zurück zu 1986: Soziologie sei immer ihr Traum gewesen. Und irgendeiner Partei seien die meisten Studenten damals beigetreten. Das stimmt natürlich für das Gros der karriereorientierten Studierenden Ende der 80er nicht.
Die SPD, also zunächst ihre Juso-Gruppe, das erzählen Zeitzeugen, sie muss anfangs so etwas wie eine neue Familie für sie gewesen sein. Außerdem bietet sie die Chance auf ein Arbeitsverhältnis. "Ich hab sie damals von den Jusos als Referentin in die Staatskanzlei geholt", erinnert sich Hessens ehemaliger Ministerpräsident Hans Eichel. Denn dass Andrea Ypsilanti allein aufgrund ihres Fleißes stets zu den Einserkandidatinnen gehört, egal, was sie anpackt, das ist damals schon unübersehbar. Aber Ambitionen auf höhere Ämter? "Das muss später gekommen sein", sagt Eichel. "Sie war jedoch hartnäckig und zäh und hat sich nie einschüchtern lassen. Das habe ich an ihr geschätzt, auch später, als ich Bundesfinanzminister war und wir wegen der Agendapolitik Differenzen hatten."
Andrea Ypsilanti schuftet schwer Anfang der 90er-Jahre, ihr fehlt der theoretische Unterbau, aber Disziplin und Arbeitsethos hat sie von zu Hause mitbekommen. "Sie war eine aufmerksame, eifrige Studentin. Bildung war für sie ein Gewinn", sagt ihre ehemalige Professorin Ute Gerhard. "Umso sensibler war sie für soziale Ungerechtigkeit. Sie hat deswegen aber keine besondere oder schräge Theorie vertreten."
1999 kandidiert Andrea Ypsilanti erstmals für den Landtag. Vier Jahre später verliert Gerhard Bökel für die SPD die hessische Landtagswahl. 29,1 Prozent, minus 10 Prozent, ein Debakel, die Partei ist am Boden und zutiefst zerstritten. Wer will da schon den Landesvorsitz übernehmen? Andrea Ypsilanti, die Pflichtbewusste, die Dankbare, steht zur Verfügung. Sie bindet ihren Parteifreunden freilich nicht auf die Nase, dass sie Positionen, die sie sich selbst erarbeitet hat, nie wieder freiwillig abgibt. "Warum soll sies übergangsweise nicht machen, das war die Stimmung, in der sie gewählt wurde", erinnert sich ein damaliger Delegierter.
Es muss dieser Moment gewesen sein, in dem ihre Partei sie am meisten unterschätzt hat.
P.S.: Sie war dann übrigens doch im "Morgenmagazin". Kompromissbereit sein und sensibel dafür, wie viel Querköpfigkeit eine der eigenen Partei zumuten darf, das kann sie auch.
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