: Die Seele in der Chipstüte
The Politics of Sampling: Der Produzent Matthew Herbert rüttelt am Fundament der Club-Kultur. Deren Sample-Praxis ist für ihn nur eine neue Form der Ausbeutung. Sein Album setzt die Alternative
von CORNELIUS TITTEL
Stell dir vor, der Sommer hat gerade erst begonnen. Du sitzt bei offenem Fenster und mit geschlossenen Augen in deinem Zimmer und wunderst dich. Scheiben zerspringen, du hörst Flaschen auf steinernem Grund zerbersten.
Für einen kurzen, verschlafenen Moment bist du ernsthaft verwirrt: Kein Nachbar zu sehen, der sein Altglas entsorgt, und auch der nächste 1.-Mai-Riot ist mindestens 5 U-Bahn-Haltestellen entfernt. Und doch hörst du: Töne, Steine, Scherben. Als wollte es dich beruhigen, schält sich ein Piano aus dem Hall klirrenden Glases, und eine Frauenstimme, der du blind vertrauen kannst, singt „I am wasting without you, broken pieces without glue“.
Mit dem Mann, der solche Zeilen schreibt und dir in Stereo die Scheibe einschmeißt, ist derzeit nicht gut Kirschen essen. Matthew Herbert ist, bei allem Harmoniebedürfnis, das aus seinem neuesten Werk „Bodily Functions“ spricht, schlicht und ergreifend angepisst.
Globalisierung, Rassismus, Angriffskriege im Namen der Menschenrechte: you name it, he hates it. Wenn er Berliner wäre, wüsste ich, wo ich ihn an diesem Nachmittag treffen könnte.
Ein Mann, der genauso wütend wie belesen ist und der genau weiß, wo der Feind steht. So kann ein Gespräch mit Matthew Herbert durchaus in eine mittlere Textexegese des neuesten Noam-Chomsky-Buches abgleiten – ein Umstand, der bislang den meisten Techno-Journalisten das Herz höher schlagen ließ. Endlich war da einer, der Revolution nicht auschließlich über den fettesten Bass und die kränkesten Breaks definierte. Einer, der, wenn er nicht gerade ein paar Kapitel elektronischer Musikgeschichte nachhaltig redigierte, regelmäßig das Studio verließ, um einen reality check zu machen. Seine House-, Techno-und Freestyle-Noise-Entwürfe unter Pseudonymen wie Doctor Rockit, Wishmountain und Radioboy hatten allesamt ein Platte-des-Monats-Abonnement. Und da Herbert sich ständig neu erfand und offensichtlich nicht auf den Mund gefallen war, hagelte es Lob und Anerkennung im Halb-Jahres-Takt. Doch nun scheint der Londoner zwei kleine, aber entscheidende Schritte zu weit gegangen zu sein. Nicht nur, dass er es gewagt hat, klassischen Musikunterricht zu nehmen, um dann – perfider Verrat – ein atemberaubend schönes Jazz-Album aufzunehmen. Nein, Herbert geht den ganzen Weg und kratzt am – seiner Meinung nach von Grund auf verfaulten – Fundament der Club Culture: dem Sampling bereits vorhandener Musik. „Ich denke wirklich, dass es höchste Zeit ist, eine Debatte über Sampling zu führen“, erzählt er. „Ich bin an einem Punkt, an dem mich die ganze Chose mehr als nur langweilt. Ich kämpfe mit mir, Sampling länger als eine gültige, wertvolle Art des Komponierens anzusehen. Gestern noch gab es im Radio ein Interview mit Freddie Hubbard, und er sagte, dass jeder seine Trompeten-Parts klauen würden, ohne ihn dafür zu bezahlen. Das ist genau der Punkt. Viele Produzenten stehlen, haben vielleicht noch nie im Leben eine Trompete in der Hand gehalten, und nennen sich dann Musiker.“
Da schluckt die Akai-Generation, und der gemeine Clubber wundert sich. Einwände wie, dass gerade der Sampler doch zu einer Demokratisierung der Musikproduktion geführt habe, weil nun jeder von seinem Schlafzimmer aus Hits um die Welt schicken könne, lässt Herbert nicht gelten. Er bittet um Verzeihung: Ob ich gerade tatsächlich von Demokratisierung gesprochen hätte? „Seien wir doch ehrlich: Das Ganze ist nichts weiter als eine sublime Ausweitung des Konsumismus. Die Produzenten glauben, sie hätten die Rechte an anderer Leute Kultur. Sie und die Industrie verdienen eine Menge Geld mit dem Diebstahl geistigen Eigentums. Es wäre ja okay, wenn nicht so viel Geld im Spiel wäre – wenn es eine Art marxistisches Ideal gäbe und alles allen gehören würde. Aber so wie das Spiel gerade im House-Sektor läuft, kann ich darin nicht mehr als eine schlechte Kapitalismus-Travestie erkennen.“
So viel ist klar: Matthew Herbert selbst ist längst ein Global Player in einem Spiel, dessen Regeln er verändern will. Sein persönliches Manifest, das er via matthewherbert.com Fans und Skeptikern gleichermaßen zugänglich macht, soll Wege aufzeigen, eine eigene musikalische Sprache zu entwickeln, ohne den Strafbestand „geistiger Kolonialismus“ zu erfüllen. Verboten ist seinem Manifest zufolge alles, was den Bedroom-Producern dieser Welt lieb und teuer ist: neben dem Sampeln fremder Musik auch der Gebrauch bereits existierender Sounds.
Dogma-Manifest für DJs
Dass Matthew Herberts Tabuliste in absehbarer Zeit auf Teile der Elektronikszene eine ähnliche Wirkung haben könnte wie Lars von Triers Dogma-Manifest auf junge Filmschaffende, bleibt unwahrscheinlich. Gleich gesinnte Produzenten, die sich derart verschärften Produktionsbedingungen aussetzten wollten, sind bislang nicht in Sicht.
„Mein Manifest mag dogmatisch klingen“, wiegelt er ab, „doch wenn du es in eine konkrete Studiosituation übersetzt, sieht es schon ganz anders aus. Sampler sind sowieso leer und müssen gefüttert werden. Wieso nach raren Soulplatten suchen, um sie für deine Beats zu plündern, wenn du auch ein Mikro nehmen kannst, um eine von Grund auf neue Sprache zu entwickeln. Du hast die Freiheit, aus dem Geräusch einer Chipstüte zu machen, was immer du willst. Also solltest du sie nutzen.“
Tatsächlich liegt in der konsequenten Umsetzung seines Manifests, das er in erster Linie als persönlichen Vertrag mit sich selbst begreift, das Geheimnis seines Erfolges. Während viele von Herberts Producer-Kollegen in Secondhand-Läden und auf Flohmärkten nach Sampling-Material fahnden – ständig auf der Suche nach der einen rumänischen Fusion-Jazz-Platte, die noch keiner zuvor als Beat-Gerüst benutzt hat –, bleibt Herbert zu Hause und webt seine Soundtexturen aus den Klängen, die ihn täglich umgeben. Da wird in Äpfel gebissen und mit Besteck jongliert, während ein defektes Heizungsrohr in Swingtime den Takt angibt.
Animismus in der Küche
So schrullig die Entstehungsgeschichte eines prototypischen Herbert-Tracks anmuten mag: ihm geht es niemals nur um Gimmicks. Exotismus als Selbstzweck ist seine Sache nicht. Jeder noch so profane Sound wird unter des Meisters Händen zum Baustein einer nie gekannten Soundsyntax, die der erstrebten, von Grund auf neuen musikalischen Sprache ihre Form verleiht. Und nicht zuletzt erlaubt ihm seine Arbeitsweise, noch im knarzigsten Minimal-Techno-Entwurf eine fast exhibitionistische Intimität und Wärme zu transportieren: dem Sound eines Küchengerätes scheint er als überzeugter Animist ähnlich viel Seele abringen zu können wie Billie Holiday ihren Stimmbändern. Da lag es eigentlich nahe, die Intimitätsschraube mit Hilfe perlender Blue Notes und flehender Vocals weiter anzuziehen. Nichts anderes macht er auf „Bodily Functions“.
Seine subtilen „Indoor Fireworks“ liefern einen erstaunlich zurückgenommenen Klangteppich für klassische, live eingespielte Jazzharmonien und die herzerweichenden Gesangsparts seiner Lebensgefährtin Dani Siciliano. „Ich habe schon immer versucht, möglichst persönliche Musik zu machen – auch wenn ich fast nie Texte geschrieben und Vocals aufgenommen habe. Dass diese Platte nun besonders intim klingt, liegt daran, dass es Songs sind und keine Tracks. Ich habe einige extrem wichtige Momente meines Lebens auf ,Bodily Functions‘ verarbeitet: Beziehungen, Verlassensein, Tod und Leben. An den Reaktionen auf die Platte habe ich aber gemerkt, dass ich in Zukunft vorsichtiger sein sollte – dass ich etwas für mich behalten muss. Dani und ich wurden schon zu oft in Interviews nach unserer Beziehung gefragt. Ich möchte nicht, dass man mir vorwirft, emotionale Pornografie zu betreiben.“
Überhaupt Vorwürfe: Zurzeit scheint Herbert – der anlässlich seiner kürzlich erschienenden Techno-Mix-CD für Tresor Records noch als Säulenheiliger des Intelligent Dancefloor gefeiert wurde – ebenso viel einstecken zu müssen, wie er austeilt. Sein Schritt vom Track zum Song ist für viele Fans der ersten Stunde ein deutlicher zurück. Seine Platte erstarre in Eleganz, hört man: Nur noch drei von 14 Stücken hätten einen Herbert-typischen Housebeat. Und schlimmer noch: Sie sei nicht nur jazzig, sie sei Jazz. Klassisch, also reaktionär. Live eingespielt, also alles andere als futuristisch. Kurz gesagt: regressives Muckertum.
Freakshow in der Mall
Konfrontiert mit solchen Reaktionen, muss Matthew Herbert lachen. Kurz nur, als wolle er den folgenden Wutanfall abmildern. Ob ich wisse, warum das Wort Jazz in Elektonikkreisen zu einem Scheißklischee verkommen sei und nur noch als Reizvokabel tauge? „Weil heutzutage jeder verfickte Achtjährige Miles Davis sampeln kann, einen schwachsinnigen Beat drunter legt und dann behauptet, das sei irgendwie Jazz. Miles! Fuckin’! Davis! Sampeln! Was für eine ekelhafte Art und Weise, sich als weißes Mittelschichtskid in eine derart komplexe und coole Kultur einzukaufen“, schimpft Matthew Herbert und entschuldigt sich gleich darauf für seine Vehemenz mit dem Hinweis, er werde als Nächstes ein Rock-Album aufnehmen – um endlich all seine Wut herauszubrüllen. Vielleicht könne er dann wieder entspanntere Interviews geben. Interviews, die weniger traurig enden als dieses.
„Ich möchte wirklich nicht pathetisch klingen“, sagt er zum Abschied. „Aber was mich richtig fertig gemacht hat, war ‚Praise You‘ von Fatboy Slim. Du hörst das Stück und findest es okay. Dann siehst du das Spike-Jonze-Video mit all den weißen Kids, die in einer Shopping Mall eine Aerobic-Persiflage durchziehen. Alles sehr lustig so weit. Doch dann hörst du das Original und kriegst raus, dass der Song während der Bürgerrechtsbewegung von dieser jungen schwarzen Frau geschrieben wurde – geschrieben als Andenken an ihren Mann, der während einer Demonstration von US-Polizisten erschossen wurde. Und Fatboy Slim sampelt den Refrain, schneidet ihn in „Pra-ai-ai-ai-aise-you“, und lässt dazu weiße Kids eine Freakshow abziehen. Das hat mich einfach unfassbar traurig gemacht. Wir müssen aufpassen, dass diese ganze Sampling-Kultur nicht eine neue Form der Unterdrückung wird. Worte und Töne sind alles, was wir haben. Wir sollten bewusster mit ihnen umgehen.“
Wenn er sie nicht selbst produziert hätte, man würde ihm zum Trost gerne eine Kopie von „Bodily Functions“ schenken. Als Zeichen gewissermaßen, dass noch nicht alles verloren ist.
M. Herbert: „Bodily Functions“ (K7)
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