Neuer Kinofilm „Der Tiger“: Selbstbegegnung eines Ostfront-Täters
Dennis Gansel wirft das Publikum in die tiefen Abgründe des 2. Weltkriegs: Es ist ein interpretationsfähiger Antikriegsfilm mit Stärken und Schwächen.
Die Exposition verspricht eine Konfrontation mit einigen der grausamsten Momente des Weltenbrandes: Handlungsort ist die Ostfront, kurz nach der Schlacht von Stalingrad. Für einen ersten, intensiven, Moment der Immersion sorgt das Gefechtsgeschehen auf einer brennenden Brücke: Die Zuschauer*in wird eingesperrt, zusammen mit der Besatzung, in die beklemmende Enge eines Wehrmachts-Panzers – der titelstiftende „Tiger“.
Für eine Vorstellung der gezeigten Besatzung bleibt keine Zeit: Wir sehen fünf Männer in ein und derselben Nahtoderfahrung. Ausweglosigkeit, Enge und Platzangst übertragen sich beängstigend eindrucksvoll. Ein sehr gelungener Einstieg.
Nach „Napola – Elite für den Führer“ (2004) und „Die Welle“ (2008) – und dann gab es auch noch seine Beteiligung an der TV-Neubearbeitung von „Das Boot“(2022/23) – hat sich Regisseur Dennis Gansel neuerlich an die deutsche Geschichte begeben. Und wieder sucht der gebürtige Hannoveraner nah heranzukommen an die, die mitmachen in einem System wie dem Nationalsozialismus.
„Ich habe unter anderem mit echten Besatzungsmitgliedern des Tiger-Panzers geredet, die mir von ihren Kriegserfahrungen berichtet haben“, sagt Gansel der taz. „Oral History, sozusagen.“ Das selbst gesetzte Ziel: ein Blick in die Psyche der Soldaten und ihre inneren Konflikte.
Reise durch die Lebenslüge einer Generation
Der Film kommt ohne klassische Dramaturgie und ohne greifbaren roten Faden aus. Was ihn zum einen angenehm unvorhersehbar macht, aber streckenweise auch irritierend. Es ist der unzuverlässig erzählte Gang eines Wehrmachtsoffiziers durch ein Fegefeuer von Erinnerung und Schuldgefühl. Die Traktion, die die Handlung aufnimmt, gleicht dabei den Panzerketten des Tigers selbst; langsam, behäbig, aber unausweichlich vorwärts in Richtung finaler Konfrontation.
Der Weg dahin ist aber nicht linear vorgezeichnet. Etwa in der Mitte des rund zweistündigen Films bleibt die Fahrt kurz im Matsch stecken, muss mühsam per Hand wieder freigeschaufelt und wieder in Fahrt Richtung Ende gebracht werden: Eine längere Sequenz allzu gleichförmiger, wortlos aufeinander folgender Close-up-Einstellungen will einfach nicht ineinandergreifen mit einem radikalen Umbruch der gezeigten Gruppendynamik und dem beginnenden Zusteuern auf das Ende.
Der Weg zum Finale ist dann etwas holperiger geraten, schlussendlich kommt aber auch die Handlung ins Ziel – und der Film zu seinem Höhepunkt: der unausweichlichen Gewissheit der eigenen Schuld. Des Versagens aller Verdrängungsmechanismen, wodurch sich der unvermittelten und ehrlichen Auseinandersetzung nicht ausweichen lässt.
Getragen wird die Erzählung vom Zerbrechen aller Kompensationsstrategien entlang des zunehmend gebetsmühlenartiger vorgetragenen Glaubenssatzes: „Wir hatten keine Wahl, wir haben nur Befehle befolgt.“ Gelungen ist die ambivalente, auch schauspielerisch gut umgesetzte Auseinandersetzung mit dieser im Protagonisten Leutnat Gerke (David Schütter) reifenden Überzeugung. Und den nicht ins Gegenteil zu verkehrenden Schluss: „Aber die Verantwortung!“
Kriegsverbrechen aus Sicht der Täter
Eben diese verhandelt der Protagonist mit sich selbst. Den beanspruchten direkten Einblick in Gerkes Psyche gewährt der Film dann allerdings nicht. In Sequenzen wortloser Einkehr dürfen die Zuschauer*innen die Stille selbst mit Inhalt füllen. Ein Stilmittel, das anfangs gut funktioniert, dann allerdings doch zu oft bemüht wird und deutlich an Effekt verliert. Etwas weniger reine Projektionsfläche hätte hier gutgetan.
Was völlig fehlt: die Perspektive der Opfer von SS und Wehrmacht. Solche Szenen seien gedreht worden, so Gansel, aber nicht verwendet – „weil der Ansatz der Erzählweise durch solche Brüche nicht mehr funktioniert hätte“. Der Film bleibt täterzentriert, bei der Wahrnehmung der Soldaten. Braucht es wirklich nochmal zwei Stunden Film, die illustrieren, wie sich Befehlsträger der Wehrmacht eine Opfer-Haltung schaffen?
Wäre die Empathie bei den zivilen Opfern des Vernichtungskrieges, bei Müttern und Kindern, nicht besser aufgehoben? Die explizite Grausamkeit geschieht off-screen: Bei einigen der besonders schrecklichen Gräueltaten durch SS-Männer, sagt der Regisseur, wäre es „geradezu voyeuristisch gewesen, diese Nähe abzubilden“.
Die Stärke des Films liegt vor allem in der unvermittelten Deutlichkeit, mit der die kriegsertüchtigte Jugend vor eine besonders harte Wahrheit von Kriegen gestellt wird: Nicht nur die Kombattanten sind dein Ziel. Hier musst du Mütter zusammen mit ihren Kindern töten, ohne ihnen dabei in die Augen zu gucken. Die historische Genauigkeit, mit der die Exzesse der SS dargestellt wurden, ist bemerkenswert.
Eine ehrliche Konfrontation mit der Schuld unserer Großväter und Urgroßväter.
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