■ Die SPD hangelt sich schon nach vier Wochen von Krise zu Krise. Ohne radikale Erneuerung des Sozialstaats wird das auch so bleiben: Pannen und Perspektiven
Die Krise steckt in der SPD. Des Kanzlers Einsicht weist in die richtige Richtung, geht aber nicht an die Wurzel der Dinge. Es war Oskar Lafontaine, der das vor einiger Zeit tat, als er eher beiläufig das deutsche Sozialversicherungssystem radikal in Frage stellte. Solange die SPD nicht bereit ist, mit ihrem Vorsitzenden das Neue zu denken, werden politische Flickschusterei und Krisen weitergehen. Für die SPD bedeutet das nicht weniger als Godesberg II, den Anfang vom Ende des Sozialstaates, wie wir ihn kennen.
I.
Bisher war es nicht nur in der SPD unumstritten, daß möglichst alle – und nicht nur die Bedürftigen – von ihm profitieren sollen: Der deutsche Sozialstaat war und ist keine Veranstaltung für Minderheiten. Er verteilt um: von den nicht ganz Reichen zu den nicht ganz Armen; vor allem verteilt er seine Segnungen über eine breite Mittelschicht. Dafür sprechen gute Gründe. Nur ein Sozialstaat, der es sich zum Ziele setzt, den Lebensstandard (bei Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit) zu sichern, hält die Menschen wirksam fern der Armut. Und nur ein Sozialstaat, von dem alle etwas haben, wird auf Dauer auch die politische Unterstützung aller haben. Ein Sozialstaat dagegen, der nur noch die Bedürftigen verwaltet, läuft Gefahr, seine politische Basis in der (alten wie neuen) Mitte zu verlieren.
Die Armutsfrage und die Solidaritätsfrage gilt es zu beantworten, nach einer Revolution à la Lafontaine, aber auch beim Status quo: Für einen Finanzminister ist es keine sinnvolle Perspektive, immer nur Löcher zu stopfen, rhetorisch soziale Errungenschaften zu verteidigen, praktisch aber Kürzungen möglichst gut zu verstecken. Und das alles nur, weil sich an der Eigenlogik jener Systeme nichts ändert, die die großen Finanzmassen bewegen, also der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Arbeitlosenversicherung – Muddling down als politisches Prinzip.
Die Alternativen zur Operation Lafontaine wären: Vollbeschäftigung, an die auch der gläubige Keynesianer scheinbar nicht mehr so recht glaubt, oder aber neue Finanzquellen, etwa durch eine Wertschöpfungsabgabe oder durch eine zwangsweise Sozialversicherung für alle. Das eine liefe dem libertären Zeitgefühl zuwider, das andere einer liberalen Angebotspolitik und so einer möglichen Erholung des Arbeitsmarktes.
Lafontaines Vorstoß rührt an die richtigen Fragen, und er wirft andere Fragen erst auf. Wer dann noch für seine Zukunft vorsorgt, Vermögen bildet, so heißt es, der ist selber schuld. Schon möglich, aber man wird sich daran gewöhnen müssen, daß die Menschen mit gebrochenen, aber auch abwechslungsreichen Biographien in den guten Zeiten für die schlechten vorsorgen. Statt Arbeitslosengeld Sozialhilfe nach einer Bedürftigkeitsprüfung? Nach einer solchen Reform sollte man sich besser hüten zu heiraten, sagen andere, und statt dessen seine Phantasie darauf konzentrieren, eheähnliche Verhältnisse vor den Sozialinspektoren zu kaschieren. Das mag ja sein, aber die privaten Beziehungen und die (ökonomischen) Machtbalancen zwischen den Geschlechtern werden sich so oder so ändern.
So wird es künftig in vielen Bereichen einen neuen sozialen Mix geben. Für die Zukunft der Rente ist die neue Kombination von kollektiver, betrieblicher und persönlicher Altersvorsorge in den Koalitionsvereinbarungen bereits beschrieben. Für die Arbeitslosigkeit könnte das bedeuten, am Versicherungsprinzip festzuhalten, aber nur für zwölf Monate (wie in den 80ern) oder kürzer, danach gäbe es für eine Weile eine Art „Sozialhilfe plus“. Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, beide bisher schon steuerfinanziert, sollten bei den Kommunen zusammengefaßt werden, die so lokale Beschäftigung, einen dritten Sektor jenseits von Markt und Staat, organisieren.
II.
Man mag diese oder andere Themen (Bildungs- und Gesundheitsreform etwa) hernehmen, für sie alle gilt: Die SPD ist schlecht oder gar nicht auf sie vorbereitet. Die Grünen haben sich in den langen Jahren der Opposition politisch, inhaltlich und konzeptionell weiterentwickelt. Sie wissen jetzt in der Regierung, was sie wollen.
Das kann man von der SPD nicht gerade behaupten. Bis zum letzten (Wahl-)Tag war der Verzicht auf politische Klärungen und Kontroversen der Preis für ein einheitliches Erscheinungsbild. Jetzt bekommen Regierung und SPD die Rechnung präsentiert. Vor 40 Jahren hat sich die SPD nach fünfjähriger Debatte erneuert (Godesberg I). Ähnlich lange haben jüngst Tony Blair und New Labour gebraucht, bis sie jene Ideen entwickelten, deren Hülsen Schröder und Hombach jetzt zitieren, vom „aktivierenden Staat“ bis zum „Trampolin“ statt Hängematte, Begriffe, hinter denen keine Substanz und schon gar nicht die SPD steht.
Manche hatten gehofft, die SPD werde sich erneuern, wenn schon nicht durch eine Programmdebatte, dann spätestens durch Regierungshandeln. Das aber hat, wie man sieht, so seine Grenzen. Die Irritationen der ersten Wochen und die Provokation Lafontaines auf dem SPD-Parteitag werden vielleicht einmal als Vorspiel zum Theater interpretiert werden, für ein Stück, das keiner kennt. Krisendiplomatie, um Zeit zu gewinnen, in der neue Strukturen gedacht, debattiert und verhandelt werden können: das wäre in der Gesellschafts- und Sozialpolitik nicht die schlechteste Strategie.
Die klugen Köpfe denken bereits in diese Richtung: Heide Simonis empfiehlt drei Monate Denkpause für die 620-Mark- Posse, Andrea Fischer und Walter Riester haben ein Jahr für einen großen Wurf in Gesundheit und Rente angemeldet. Das dürfte nicht reichen, und es wäre auch nicht schlimm. Der deutsche Sozialstaat hat knapp 100 Jahre gebraucht, bis er wurde, was er ist, und über zehn Jahre, bis sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß er nicht bleiben kann, wie er einmal war. „Es wird großer gesellschaftlicher Krisen und großer politischer Konsense bedürfen, um drastische Strukturveränderungen durchzusetzen“, so der Sozialpolitiktheoretiker Christoph Sachße. Gegenwärtig gibt es keine Krise (nur eine kleine der Regierung), und es gibt auch keinen Konsens, nicht bei Rot-Grün, nicht in der Gesellschaft.
Die Regierung sollte sich Zeit lassen, aber endlich mit einer wahrhaftigen Debatte anfangen. Im Wahlkampf haben sie noch einmal glauben gemacht, daß die kleine heile Welt noch eine Weile hält. Die Zeit der schönen Täuschungen ist vorbei. Lafontaine und die Pannen haben den Vorhang weggezogen. Warnfried Dettling
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