: Die Rote Armee wehrt sich
■ Der sowjetische Außenminister protestiert per Rücktritt gegen den Einfluß der Armee
Ganz unerwartet kommt der Rücktritt Schewardnadses nicht. Die Opposition gegen die durch Schewardnadse repräsentierte sowjetisch Außenpolitik verstärkte sich bereits seit einiger Zeit. Im Golfkonflikt hatte sich Schewardnadse in aller Vorsicht auf die Seite der USA gestellt und ein militärisches Eingreifen unter bestimmten Umständen nicht ausgeschlossen. Hiergegen lancierte die konservative Abgeordnetengruppe „Sojus“ (Union) im Kongreß der Volksdeputierten der RSFSR einen Aufruf zur Nichteinmischung, der mit 683 gegen 161 Stimmen angenommen wurde. Bei vielen Abgeordneten mag dahinter der Wunsch nach bedingungslosem Frieden gestanden haben. Zumindest für die Konservativen ging es um etwas anderes: um das Bündnis mit Saddam Hussein bzw. jenen arabischen Kräften, die ihn unterstützen. Schließlich geht es auch um angeblich sechs Milliarden Dollar, die die Sowjetunion verliert, wenn sie die Rüstungsverträge bricht. 800 Millionen Dollar verliert die Sowjetunion durch das Ende der Öltransporte aus Basra und Kuweit.
Aber auch Gorbatschow unterstützte die Linie Schewardnadses nicht mehr vorbehaltlos. Er selbst steht immer mehr unter dem Druck der Konservativen und wollte sich mit ihnen arrangieren. Die Liberalen waren weitgehend aus der KPdSU ausgetreten und bekämpften ihn von außen. Als seinen Sonderbeauftragten im Golfkonflikt und offenbar neuen außenpolitischen Vertrauensmann wählte Gorbatschow Jewgenij Primakow, der Saddam Hussein angeblich seit 25 Jahren kennt, der eine weitaus „weichere“ Linie als Schewardnadse im Golfkonflikt vertritt.
Hinter der friedlichen Linie gegenüber dem Irak steckt paradoxerweise das Militär mit seinem sich seit Gorbatschows Machtantritt 1985 aufgestauten Ärger. Schon der Rückzug aus Afghanistan stieß insgeheim auf Groll in den höheren militärischen Etagen. Der Chefredakteur der Militärzeitschrift 'Krasnaja Swesda‘ (Roter Stern), General Filatow, empfahl kürzlich gar eine Rückkehr nach Afghanistan, um die muslimische Südflanke der Sowjetunion vor schädlichen Einflüssen zu schützen. Ebensolchen Unmut hatten von Anfang an die Entspannungsmaßnahmen, die den Kalten Krieg beendeten, erregt. 1986 und 1987 war aber die Macht Gorbatschows in der Partei noch so stabil, daß er sich durchsetzen konnte. Der Rückzug aus den osteuropäischen ehemaligen Satellitenstaaten, vor allem jedoch die Aufgabe des treuesten Verbündeten, der DDR, erschien in jenen Kreisen dann aber als Kapitulation ohne Entschädigung. Die in die Sowjetunion zurückströmenden Soldaten und Offiziere finden mitsamt ihren Familien weder Unterkünfte noch ausreichende medizinische und soziale Infrastruktur. Sie haben den Kalten Krieg verloren.
Hinter der konservativen Fronde steckt die Furcht vor einem Verlust der Rolle als Supermacht. Um zehn Prozent wird der sowjetische Rüstungshaushalt verringert, der Posten Forschung und Entwicklung allein um 23 Prozent. Die Militärs, die ein endgültiges Hinterherhinken der sowjetischen Militärmaschine befürchten, verweisen erbittert auf die 4 Prozent Steigerung des amerikanischen Rüstungshaushaltes. Grundsätzlicher aber spielt die konservative Furcht vor Auflösung und Anarchie eine Rolle.
Drei Gruppen, die eine gemeinsame politische Kultur haben, sind es vor allem, die in diesem politischen Denken geeint sind. Von ihnen könnte der Versuch ausgehen, das Reich dikatorisch zu retten. Zunächst gehört dazu die Armee, bzw. ihr Offizierskorps, das zu 90 Prozent aus Slawen und zu 80 Prozent aus Russen besteht. Allerdings gibt es hier schon auf der mittleren Ebene reformerische Strömungen, und die untere Ebene ist vollkommmen unzuverlässig geworden. Neben dem höheren Offizierskorps steht der militärisch-industrielle Komplex, der zu den wenigen wirklich organisierten in der Sowjetunion gehört. Ihm entstammen, bis auf Wirtschaftsprofessor Abalkin, alle Wirtschaftsspezialisten der Regierung einschließlich Ministerpräsident Ryshkow. Vor der ZK-Tagung am 10. Dezember verurteilten die in Swerdlowsk versammelte Generaldirektoren des militärisch-industriellen Komplexes Gorbatschows „inkompetene Wirtschaftspolitik“. Die Wirtschaft solle von jenen in die Hand genommen werden, die davon etwas verstehen, also von ihnen selbst.
Die wirkliche Gefahr geht jedoch vom KGB aus. Er mußte mit ansehen, was seinen Schwesterorganisationen in den ehemaligen „Bruderländern“, darunter der Stasi der DDR, geschah. Insgesamt verfügt der KGB, einschließlich der Streitkräfte des Innenministerums, über etwa 1,4 Millionen Bewaffnete.
Das weitergehende politische Milieu wurde in dem Aufruf vom 18. Dezember erkennbar. 53 prominente Persönlichkeiten appellierten an Gorbatschow, in den politischen Krisengebieten den Ausnahmezustand zu verhängen. Zu ihnen gehören bekannte nationalistische russische Schriftsteller und Militärs — an ihrer Spitze Generalstabschef Moissejew und der stellvertretende Verteidigungsminister Warennikow. Unterschrieben hat auch das Oberhaupt der russischen orthodoxen Kirche, Patriarch Alexej II. Klaus-Helge Donath, Moskau
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