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Die Reihen haben sich gelichtet

Morgen entscheidet der Verfassungsrat, wer tatsächlich für die französischen Präsidentschaftswahlen in drei Wochen kandidieren darf / Nur wenige sind noch übriggeblieben  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Drei Wochen vor dem ersten Wahlgang ist der Ton zwischen den Kandidaten im französischen Präsidentschaftswahlkampf scharf geworden. Vor allem der zwischen den beiden neogaullistischen „Brüdern“ und langjährigen Freunden Edouard Balladur und Jacques Chirac. Balladur, der sich als Premierminister seit März 1993 einen Ruf als Mann der zurückhaltenden Töne und der vornehmen Distanz gemacht hat, ist in die Offensive gegangen.

Seit März sehen die Meinungsumfragen Balladur nicht mehr an der Spitze, sondern erst an zweiter oder gar dritter Stelle. Der Absturz markiert den Wendepunkt seines Wahlkampfes. Seine Kandidatur hatte Balladur noch von seinem Premierministerbüro aus per Live- Übertragung auf fast allen französischen TV-Kanälen verkündet – vor vergoldetem Stuck und in Ton und Duktus des künftigen Präsidenten. Seine Konkurrenten würdigte jener siegesgewisse Balladur keiner Erwähnung, schon gar keiner namentlichen. Für eine TV- Diskussion mit ihnen sah er keine Veranlassung.

Seither ist Balladur aufgewacht. Es ist sein erster Wahlkampf, und in seinem verzweifelten Bemühen um mehr Popularität hat er in den vergangenen Wochen das stets von ihm gemiedene Bad in der Menge gesucht und sich bei „Familien aus dem Volk“ zum Essen einladen lassen. Wie viele Monate zuvor sein Konkurrent Chirac, zeigt sich heute Balladur umringt von spärlich bekleideten westindischen Tänzerinnen, tobenden Jugendlichen und backenküssenden Kleinkinder.

Vor allem aber ist sein Tonfall aggressiver geworden. Heute ist es Balladur, der seine Gegner beim Namen nennt und zum Fernsehduell herausfordert. Doch während der Sozialist Lionel Jospin dazu bereit ist, ziert sich nun Chirac. Möglicherweise fürchtet er, daß die dabei zwangsläufig vorgeführte Spaltung des konservativen Lagers das Wahlvolk verschrecken könnte. Vielleicht sorgt ihn auch, daß der dritte Diskutant, Jospin, vorführen könnte, daß Chirac tatsächlich kein Linker ist, wie seine Wahlkampagnenstrategen glauben machen wollen.

Chirac, seit 1977 Bürgermeister von Paris und seit 1981 unermüdlich Präsidentschaftskandidat, hat exakt die umgekehrte Metamorphose durchgemacht, seit er die Meinungsumfragen anführt. Aus dem Chef der Partei RPR, der jahrelang den Ruf als jovialer, aber lauter und schwer zu berechnender Politiker hatte, ist binnen weniger Wochen ein Mann mit staatsmännischer Pose geworden. Heute legt er demonstrative Denkpausen ein, bevor er sich vor Publikum äußert, vermeidet direkte Angriffe auf seine Konkurrenten und hütet sich vor jeder Form von Siegesgewißheit. Die hartnäckigen Gerüchte, er habe längst die Posten in seiner künftigen Regierung verteilt, dementiert er auf das nachhaltigste.

Im Windschatten des konservativen „Bruderkriegs“ hat sich der Sozialist Jospin binnen weniger Wochen zu einer Figur entwickelt, die viele für präsidentiabel halten. Er hat sich einen neuen Mantel, eine neue Brille und ein Image als ernsthafter linker Herausforderer zugelegt. Bei den Meinungsumfragen hat er damit den zweiten oder dritten Platz erklommen.

Hinter den drei Großen haben sich die Reihen der Bewerber um das Präsidentenamt gelichtet. Am Wochenende schmiß der Kandidat der linkspopulistischen Partei „Radical“, der weitgehend unbekannt gebliebene Hory, das Handtuch.

Von den drei konkurrierenden Umweltkandidaten sprang der Ex- Sozialist Brice Lalonde bereits vor Wochen ab und der zweite, Antoine Waechter, gestand gestern ein, daß ihm noch 30 Unterstützungsunterschriften für seine Kandidatur fehlen. Möglicherweise bleibt allein Dominique Voynet, die einzige Umweltkandidatin mit einem linken Profil, bis zum ersten Wahlgang am 23. April übrig.

Wer kandidieren darf und wer nicht, das entscheidet in dieser Woche der Verfassungsrat, wo bis morgen pro Kandidat 500 Unterschriften von BürgermeisterInnen und anderen gewählten WürdenträgerInnen eingegangen sein müssen. Sicher scheint, daß solche Leute wie der rechte Populist Philippe de Villiers, der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen, der Kommunist Robert Hue und die Trotzkistin Arlette Laguiller mitmachen dürfen.

Beim zweiten Wahlgang werden die „kleineren“ Kandidaten – die beim ersten Durchgang teils über zehn Prozent der Stimmen erwarten – sicher nicht beteiligt sein. Und während manche prominente Unterstützer von Balladur – darunter der Innenminister und der Verteidigungsminister – bereits Friedenssignale in Richtung Chirac aussenden, wissen die meisten „Kleinen“ noch nicht einmal, welche Wahlempfehlung sie aussprechen werden. Kommt es zum allseits erwarteten Duell zwischen den „feindlichen Brüdern“ Balladur und Chirac, wird der zweite Durchgang für die meisten von ihnen eine Wahl zwischen Pest und Cholera.

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