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Die Rede des Kapitalismuskritikers BadiouDemokratie - Politik - Philosophie

Alain Badiou gehört zu jenen Denkern, die versuchen, ihre Kapitalismustheorie mit aktuellen politischen Fragestellungen zu verbinden. Auch bei den Mosse Lectures in Berlin.

ALAIN BADIOU

Der Senatssaal der Berliner Humboldt-Universität war letzten Donnerstag völlig überfüllt, als der französische Kapitalismuskritiker seine Mosse-Lecture hielt. Ebenso drängten Hunderte einen Tag später in die Berliner Kunstwerke, um dort den Ausführungen Badious (geb. 1937) zu Kunst und Politik zu lauschen. Was ist es, was das derzeitige Interesse an diesem altmaoistischen Philosophen aus Frankreich ausmacht? Seine in französischem Englisch vorgetragene ästhetische Theorie wohl kaum, die auf einer schlichten Kanonisierung der Avantgarden seiner jüngeren Rezeptionsjahre fußt. Nachzulesen ist dies auch in seinem bei Merve 2007 verlegten "Dritten Entwurf eines Manifests für den Affirmationismus", auf die die Ausführungen in den Kunstwerken gründeten. Spannender hingegen seine Rede zu Demokratie und Philosophie bei den Mosse-Lectures, die wir hier abdrucken. Badiou zählte zu den Aktivisten des französischen Maoismus, der seine Blüte in den 1970ern hatte. 2006 erschien in deutscher Übersetzung bei Diaphanes die Vortragssammlung "Das Jahrhundert", im gleichen Verlag ist für den Februar seine Streitschrift "Wofür steht der Name Sarkozy?" angekündigt.

Jeder versucht, der beste Demokrat zu sein. Heutzutage finden alle politischen Widersprüche stets zwischen verschiedenen Demokratien statt. Selbst der Krieg ist eine demokratische Handlung gegen eine falsche Demokratie. George W. Bush rechtfertigte den Krieg gegen den Irak damit, dass er demokratischer sei als Saddam Hussein. Es scheint unmöglich geworden, kein Demokrat zu sein. Liegt dies vielleicht daran, dass wir uns kurz vor dem Ende der bekannten Form von Demokratie befinden? Das wird sich zeigen. Sicher ist aber, dass man den Begriff der Demokratie erklären muss.

Beginnen wir mit einem Widerspruch. Zum einen ist die Philosophie notwendig eine demokratische Handlung. Ich werde gleich erklären warum. Zum anderen teilt die Mehrheit der Philosophen, von Platon bis zu mir selbst, einschließlich Hegel, Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger oder Deleuze, politische Überzeugungen, die im üblichen Sinne des Wortes absolut nicht demokratisch sind. Diesen Punkt sollte ich ebenfalls erklären.

Es besteht ein Widerspruch zwischen der wahren Natur der Philosophie, die gewiss einer demokratischen Auffassung der Diskussion und des Denkens entspricht, und den Auffassungen der Philosophie im politischen Feld, die häufig einen autoritären Rahmen für die kollektive Bestimmung der Menschen akzeptieren. Wir sind also mit einer paradoxen Beziehung zwischen drei Begriffen konfrontiert: Demokratie - Politik - Philosophie. Wir müssen von der Demokratie zur Philosophie gelangen. Denn die Geburt der Philosophie hängt bei den alten Griechen eindeutig von der Erfindung einer ersten Form von demokratischer Macht ab. Aber wir müssen auch von der Philosophie zur Politik gelangen. Denn die Politik war im geschichtlichen Werdegang der Philosophie immer ein sehr wichtiges Anliegen der Philosophen. Während aber die Politik einen reflexiven Gegenstand für die Philosophie darstellt, ist es im Allgemeinen sehr schwierig, von einer solchen Art von Politik zur Demokratie zu gelangen.

Wenn Sie so wollen: Demokratie ist vor der Philosophie eine Notwendigkeit und nach der Philosophie eine Unmöglichkeit. Unsere Frage lautet also: Was ändert sich in der Politik durch die philosophische Handlung, so dass die Demokratie einerseits etwas Notwendiges und andererseits etwas Unmögliches oder sehr Schwieriges ist? Und die Antwort lautet: Die Schwierigkeit liegt in der Beziehung zwischen dem demokratischen Begriff der Freiheit und dem philosophischen Begriff der Wahrheit. Wenn es so etwas wie eine politische Wahrheit gibt, dann ist diese Wahrheit eine Pflicht für jeden rational denkenden Geist. Das heißt aber, dass die Freiheit absolut begrenzt ist. Und umgekehrt, wenn es keine solche Begrenzung gibt, dann gibt es keine politische Wahrheit. Aber in diesem Fall lässt sich überhaupt kein Bezug zwischen der Philosophie und der Politik herstellen.

Die drei Begriffe Politik, Demokratie und Philosophie sind also durch die Frage der Wahrheit miteinander verknüpft. Somit stellt sich die Frage: Was ist ein demokratisches Konzept der Wahrheit? Was ist, gegen den Relativismus und den Skeptizismus, eine demokratische Universalität? Was ist ein demokratisches Gesetz, das ohne das Gebot einer Transzendenz auf uns alle applizierbar ist? Die Philosophie hat zwei grundlegende Eigenschaften. Einerseits ist sie ein Diskurs, der von der Stellung des Menschen, der ihn hervorbringt, unabhängig ist. Die Philosophie ist nicht der Diskurs eines Königs, eines Priesters, eines Propheten oder eines Gottes. Von Seiten der Transzendenz, der Macht oder der sakralen Funktionen gibt es keine Garantie für die philosophische Rede. Philosophie setzt voraus, dass die Suche nach der Wahrheit offen für alle ist. Das philosophische Denken kümmert sich nicht um die subjektive Aussage, sondern um den objektiven Wortlaut. Die Philosophie ist ein Diskurs, der sich allein aus sich selbst heraus legitimiert. Dies allerdings ist eindeutig eine demokratische Eigenschaft.

Andererseits ist die Philosophie unmittelbar der Beurteilung durch andere ausgesetzt. Der philosophische Diskurs wird durch das Vorhersehen von Einwänden und die Anerkennung der Diskussion hergestellt. Sein Axiom ist die Gleichheit aller Gedanken. Diese Gleichheit stellt das Gericht für den philosophischen Diskurs dar. Und es ist ein Gericht im demokratischen Sinne des Wortes. Die soziale, kulturelle oder religiöse Position einer sprechenden oder denkenden Person ist der Philosophie vollkommen gleichgültig. Die Philosophie akzeptiert, von allen zu sein. Zugleich ist die Philosophie der Zustimmung oder der Kritik ausgesetzt, und zwar ohne Vorentscheidung über die Person, die zustimmt oder kritisiert. Die Philosophie akzeptiert, für alle zu sein. So können wir schlussfolgern, dass das eigentliche Wesen der Philosophie demokratisch ist.

Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Philosophie, die akzeptiert, sowohl in ihrem Ursprung als auch in ihrer Zuschreibung (Adresse) absolut universell zu sein, nicht akzeptieren kann, in ihrer Bestimmung oder ihrem Ziel gleichermaßen demokratisch zu sein. Jeder kann ein Philosoph oder der Gesprächspartner eines Philosophen sein. Aber es wäre falsch zu behaupten, dass jede Meinung gleichwertig ist. Das Axiom der Gleichheit der Gedanken ist weit davon entfernt, ein Axiom der Gleichheit der Meinungen zu sein. Seit den Anfängen der Philosophie bei Platon ist zuerst zwischen falschen und richtigen Meinungen und sodann zwischen Meinungen und der Wahrheit zu unterscheiden. Aus diesem Grund kann die Philosophie das große demokratische Prinzip der Freiheit der Meinungen offenkundig nicht akzeptieren. Wenn die Meinung das genaue Gegenteil einer Wahrheit darstellt, dann kann für sie diese Art der Freiheit nicht gelten. Auch in den westlichen Demokratien werden nicht alle Meinungen akzeptiert. In Frankreich zum Beispiel unterliegt die Leugnung der Ermordung der Juden durch die Nazis nicht der Meinungsfreiheit. Es gibt ein Gesetz, das es verbietet, eine solche Meinung öffentlich zu verkünden. Allgemeiner gesprochen: Die Philosophie stellt die Einheit und die Universalität der Wahrheit der Pluralität und der Relativität der Meinungen entgegen.

Es gibt noch einen weiteren Grund, der die demokratische Hinwendung der Philosophie begrenzt. Die Philosophie ist der kritischen Beurteilung durch andere ausgesetzt. Dieses Ausgesetztsein beruht aber auf einer allgemeinen Anerkennung einer Regel für die Diskussion. Wir müssen die Gültigkeit von Argumenten anerkennen. Und schließlich müssen wir die Existenz einer universellen Logik als formale Bedingung für das Axiom der Gleichheit der Gedanken anerkennen. Das Axiom der Gleichheit der Gedanken befindet sich mit Sicherheit und notwendig im Feld der allgemeinen Logik. Dies ist - im metaphorischen Sinne - die "mathematische" Dimension der Philosophie. Es besteht eine Freiheit in der Zuschreibung oder Adressierung, aber es besteht zugleich die Notwendigkeit einer strengen, für alle gültigen Regel der Diskussion.

Wie die Mathematik ist die Philosophie von allen und für alle: Sie hat keine besondere Sprache, aber es gilt eine strenge Regel für die Schlussfolgerungen. Wenn also die Philosophie die Politik untersucht, so kann sie dies nicht nach Maßgabe der reinen Freiheit tun und erst recht nicht nach Maßgabe der Freiheit der Meinungen. Die Philosophie beschäftigt sich vielmehr mit der Frage: Was kann eine politische Wahrheit sein?

Gleichheit und Universalität sind die Charakteristika einer gültigen Politik im Feld der Philosophie. Der klassische Name dafür lautet Gerechtigkeit. Für die Gerechtigkeit ist Gleichheit wichtiger als Freiheit. Und Universalität ist wichtiger als Partikularität, Identität oder Individualität. Aus diesem Grund ist die allgemeine Definition der Demokratie als Freiheit der Individuen problematisch.

Richard Rorty hat erklärt: "Demokratie ist wichtiger als Philosophie." Mit diesem politischen Prinzip bereitet Rorty faktisch den Boden für die Auflösung der Philosophie im kulturellen Relativismus. Doch Platon sagt zu Beginn der Philosophie genau das Gegenteil: Philosophie ist weit wichtiger als Demokratie. Und wenn die Gerechtigkeit der philosophische Name für die Politik als kollektive Wahrheit ist, dann ist Gerechtigkeit wichtiger als Freiheit. Die große Kritik der demokratischen Politik bei Platon ist allerdings ambivalent. Einerseits stellt sie die persönliche Meinung eines Aristokraten dar. Aber andererseits zeigt sie ein wirkliches Problem auf, nämlich den grundlegenden Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Letztlich ist dies unsere heutige Situation: Der Preis für unsere Freiheit, hier in der westlichen Welt, ist eine monströse Ungleichheit, innerhalb unserer Länder, vor allem aber außerhalb. Philosophisch gesprochen gibt es überhaupt keine Gerechtigkeit in der zeitgenössischen Welt.

Das beste Paradigma für die Gerechtigkeit ist wahrscheinlich, wie schon Platon ausgeführt hat, die Mathematik. In der Mathematik finden wir eine ursprüngliche Freiheit, welche die Freiheit des Auswahlaxioms ist. Danach herrscht allerdings eine vollkommene Bestimmtheit, die einigen logischen Regeln folgt. Wir müssen die Konsequenzen unserer ersten Wahl akzeptieren. Und dieses Akzeptieren ist keine Freiheit, sondern ein Zwang, die Notwendigkeit und die harte intellektuelle Arbeit, den korrekten Beweis zu finden. In der Mathematik finden wir eine strenge universelle Gleichheit in einem präzisen Sinn: Ein Beweis ist ein Beweis, und zwar ausnahmslos für alle, die die ursprüngliche Wahl und die logischen Regeln akzeptieren. Wahl - Konsequenzen - Gleichheit - Universalität. Diese vier Begriffe beschreiben, in dieser Reihenfolge, das Paradigma des politischen Begriffs der Gerechtigkeit.

Im Übrigen haben wir es hier auch mit dem Paradigma der klassischen revolutionären Politik zu tun, deren Ziel die Gerechtigkeit ist. Man muss zunächst eine grundlegende Auswahl akzeptieren. Hier ist es die Wahl zwischen zwei Wegen, wie die chinesischen Revolutionäre gesagt haben: dem revolutionären Weg oder dem konservativen Weg, Arbeiterklasse oder Bourgeoisie, kollektiver Handlung oder privatem Leben. Und man muss die Konsequenzen dieser Wahl annehmen: Opfer und erbitterter Kampf, keine Freiheit der Meinungen oder Lebensstile, sondern Disziplin und harte Arbeit, um die strategischen Mittel für den Sieg zu finden. Und das Resultat ist kein demokratischer Staat im landläufigen Sinne des Wortes, sondern eine Diktatur des Proletariats, die dazu dient, die Feinde niederzuschlagen. Zudem präsentiert sich dieses Paradigma als absolut universell, weil das Ziel nicht die Macht einer bestimmten Klasse oder Gruppe ist, sondern die Aufhebung aller Klassen und Ungleichheiten und schließlich das Ende des Staates selbst.

Allerdings bezeichnet "Demokratie" in dieser Auffassung zwei völlig verschiedene Dinge: einerseits die Form eines Staates im Sinne von Lenin und andererseits eine Volksbewegung im Sinne Maos. Im ersten Sinne hat die Demokratie keinen Bezug zur revolutionären Politik oder zur Gerechtigkeit. Im zweiten Sinne ist die Demokratie weder eine Norm noch ein Ziel. Sie ist ein Mittel für die aktive Präsenz des Volkes im politischen Feld.

Demokratie ist nicht die politische Wahrheit, sondern ein Mittel, um die politische Wahrheit zu finden und zu realisieren.

Allerdings müssen wir heute, da diese klassische Sequenz der revolutionären Politik für immer verloren ist, neue Wege gehen, um die Demokratie als eine Möglichkeit zur Befreiung des Volkes zu begreifen. Insofern hat meine Vorlesung auch den Sinn, die Demokratie als philosophische Bedingung für ein neues Lernen, einen neuen Status des Diskurses zu fassen. Denn die wahre Politik zu erlernen, heißt neue Orte für die Gerechtigkeit zu beschreiben. Diese Orte dürfen aber nicht vorherbestimmt sein. Sie können dem Staat nicht gehören. Es sind Stätten, an denen man aus der bestehenden subjektiven Welt heraustreten kann.

So gilt es, den rechten Weg zu erlernen, eine politische Wahrheit zu erkennen und von ihr erfasst zu werden.

Wir können sagen, dass die Demokratie ein Ereignis mit politischen Folgen ist. Oder mit den Worten des Dichters Wallace Stevens: Demokratie ist ein "Vorzeichen", etwas, "das von der Zukunft gesagt wird". Wir können die Demokratie nicht auf die demokratische Macht eines Staates reduzieren. Demokratie ist, sofern sie sich ereignet, für den Philosophen das Versprechen einer Neuheit im politischen Feld.

Aus dem Englischen von Gernot Kamecke

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2 Kommentare

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  • IS
    Ingo Stützle

    Frieder O. Wolf, ehemaliger EU-Abgeordneter der Grünen und Prof. Philosophie an der FU hat in Analyse & Kritik eine Auseinandersetzung mit Badiou begonnen, die fortgesetzt werden soll. So einfach wie Otto Singer macht er es sich aber nicht.

  • OS
    Otto Singer

    Es fragt sich, was ein Vortrag mit einer derartigen Pervertierung des Demokratiebegriffes in einer Mosse-Lecture zu suchen hat. Die Veranstaltungsreihe beruft auf eine lange demokratische Tradition, die mit dem Namen des Verlagshauses Mosse verbunden ist. Badious Konzeption ist dagegen eine Anleitung zur (gewalttägigen) Machtübernahme durch eine Minderheit ("Demokratie als eine Möglichkeit zur Befreiung des Volkes"). Es ist der alte semantische Trick aller totalitären Bewegungen: Sie geben vor, für alle zu sprechen und schreiben sich die Vertreterrolle für alle und alles zu.

     

    Badiou konstruiert ein neues revolutionäres Subjekt, eine Art postmodernes Weltproletariat. In analoger Weise begründen auch andere antidemokratische Bewegungen ihren Machtanspruch. Mit Demokratie im Sinn der Partizipation aller an einer kollektiven Meinungs- und Entscheidungsfindung (in kommunikativer Hinsicht bzw. als Entscheidungsverfahren) hat dies nichts zu tun.