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Die Räder sollen auch mal stillstehen

Am Wochenende sollen die Hamburger Lieferando-Fahrer streiken. Dazu aufgerufen hat die Gewerkschaft NGG, um einen Tarifvertrag zu erzwingen. Sie befürchtet, dass das Unternehmen sonst eine geringer bezahlte Schattenflotte mithilfe von Subunternehmen aufbaut

Warnstreik für bessere Arbeitsbedingungen: Alle Lieferando-Räder sollen ab Freitag für 36 Stunden stillstehen Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Von Krischan Meyer

Per App Essen bestellen – für viele Menschen ist das Alltag. Nur am kommenden Wochenende nicht für alle: Viele hungrige Ham­bur­ge­r:in­nen sollten sich darauf einstellen, dass sie vor die Haustür gehen müssen, um sich ihre Pizza zu kaufen. Oder selbst kochen. Denn die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) ruft Hamburgs Lieferando-Mit­ar­bei­te­r:in­nen ab Freitag zu einem gleich 36-stündigen Warnstreik auf. Er soll der bislang längste bei dem wegen seiner Arbeitsbedingungen umstrittenen Lieferdienst werden.

Nach Angaben der NGG soll das auch erst der Anfang einer bundesweiten Protestaktion sein. Ziel der Gewerkschaft ist der komplette Shutdown des orangenen Lieferriesen. Hintergrund des Aufrufs ist die jahrelange Weigerung des Mutterkonzerns „Just Eat Takeway“, sich auf Tarifverhandlungen einzulassen. „Seit über zwei Jahren stellt sich Lieferando taub. Gerade nach der hohen Inflation der letzten Jahre ist ein Tarifvertrag mehr als überfällig“, erklärt der Hamburger NGG-Referatsleiter Mark Baumeister.

Gleichzeitig soll, so die NGG, Lieferando mithilfe von Subunternehmen eine Art Schattenflotte aufbauen. Das Ziel: möglichst viele Fah­re­r:in­nen, „Rider“ genannt, aus ihren bestehenden Arbeitsverträgen vergraulen, nur damit sie von Firmen wie „fleetlery“ einen neuen Vertrag angeboten bekommen können – allerdings zu schlechteren Konditionen. Nach diesem Modell seien laut NGG in Berlin bereits rund 500 Stellen abgebaut worden. Hinzu gebe es im Zuge dessen bereits Berichte über Verstöße gegen das Mindestlohngesetz.

Vorbild für das Vorgehen ist offenbar Österreich. Dort hatte Lieferando im März allen über 1.000 Fah­re­r:in­nen gekündigt und ihnen eine Beschäftigung als selbstständige Auf­trag­neh­me­r:in­nen angeboten. Konkret bedeutet das für Lieferando: Der Konzern muss sich nicht mehr um Urlaubsansprüche und Sozialabgaben kümmern und eine Kündigungsfrist gibt es auch nicht mehr. Medienberichten zufolge hat Lieferando damit das Konzept seiner österreichischen Konkurrenten Foodora und Wolt übernommen.

Derzeit verdienen die Fah­re­r:in­nen von Lieferando in Deutschland den Mindestlohn von 12,82 Euro. Das Geschäft boomt und die Fah­re­r:in­nen müssen bei Wind und Wetter das Essen an die zahlreichen Kun­d:in­nen ausliefern. Dazuverdienen können sie sich einen Bonus, wenn das Essen besonders schnell ausgeliefert wird. Nur: Ab August sollen Kraftfahrer:innen, also Angestellte, die Essen mit Autos ausliefern, keine Schnelligkeitsboni mehr bekommen. Zu hoch sei die Unfallgefahr, wenn Fah­re­r:in­nen dazu verleitet werden, durch die Stadt zu heizen.

Diese sogenannten „Order-Boni“ machen jedoch einen relevanten Teil des Gesamtlohns aus, heißt es von der Gewerkschaft. Wenn dieser wegfällt, verliere ein großer Teil der Beschäftigten die Möglichkeit, von ihrem Job überhaupt leben zu können. Mittels des geforderten Tarifvertrags könne dieser Wegfall aufgefangen werden.

Lediglich Lieferandos Logistikgesellschaft „Takeaway Express“ äußert sich zur Kritik der Gewerkschaft: „Eine Tarifvertragsinsel ist im gegebenen Marktumfeld unrealistischer denn je“, heißt es in einer Mitteilung. „Unsere konzernangehörige Logistik ist bereits besonders arbeitnehmerfreundlich. Das wissen auch unsere Fahrer und die NGG. Zugleich müssen wir uns im Wettbewerb behaupten und halten die Darstellung für irreführend.“

„Die meisten Fahrer schätzen ihre im Markt einzigartig abgesicherten Arbeitsbedingungen“

Lieferandos Logistikgesellschaft „Takeaway Express“

Ob dem Hamburger Streikaufruf viele Fah­re­r:in­nen folgen werden, ist noch ungewiss. „Diesem Aufruf der NGG werden erfahrungsgemäß nur wenige Fahrer folgen“, teilt einerseits Takeaway Express mit. „Die meisten schätzen ihre im Markt einzigartig abgesicherten Arbeitsbedingungen – und sie verstehen, dass eine Streikwelle nur den eigenen Betrieb schwächen würde.“ Baumeister hingegen ist optimistischer: „Mit unseren Forderungen rennen wir bei den überwiegend migrantischen Beschäftigen offene Türen ein.“

Befragt, ob sie denn auch am Streik teilnehmen wollen, antworten zwei Lieferando-Fahrer am Mittwochnachmittag in der Hamburger Innenstadt während ihrer Schicht zurückhaltend. Einer überlegt mitzudemonstrieren. Der andere hat vom Aufruf noch nichts gehört, will aber möglichst bald bei Lieferando aufhören, um Fahrlehrer zu werden. Beide wünschen sich ein höheres Gehalt und die Arbeitszeiten seien besonders am Wochenende zum Teil lang. Beide sehen ihre Jobs jedoch bislang nicht durch Subunternehmen gefährdet.

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