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Die Probleme der KunstfreiheitDie späten Gefangenen einer Ideologie

Wird Kunst für Propagandazwecke missbraucht, beruft man sich gern auf Kunstfreiheit. Wie deutsch dieses Konzept ist, untersucht Peter Jelavich.

Abgehängt: das umstrittene documenta-Werk vom Künsterkollektiv Taring Padi „People’s Justice“, Kassel, am 21.6.2022 Foto: Andreas Fischer/epd

Berlin taz | Kunst sollte absolut frei sein.“ Beim Festakt zum 70-jährigen Bestehen der Documenta in Kassel im Frühsommer holte Carolyn Christov-Bakargiev zum großen Plädoyer für die Kunstfreiheit aus. Die Kunsthistorikerin sieht in der Kunstfreiheit einen notwendigen „Stresstest“ für demokratische Gesellschaften. Die Kritik an problematischen Inhalten, argumentierte sie, sei oft überzogen – die Freiheit der Kunst müsse über allem stehen.

Mit seinem vorzüglichen, spannend zu lesenden Buch stellt der Historiker Peter Jelavich die meistgenutzte Kampfvokabel der Documenta 15 – Kunstfreiheit! – endlich einmal auf den analytischen Prüfstand. Er verfolgt die juristische ­Kodifizierung dieses Konstrukts vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Die Kunstfreiheit, das zeigt der Wissenschaftler, der an der Johns-Hopkins-Universität im US-amerikanischen Baltimore Kultur- und Geistesgeschichte Europas lehrt, war nicht immer so gut geschützt wie heute. In der preußischen Verfassung von 1850 stand nur das allgemeine Recht, „durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern“.

Erst in der Verfassung der Weimarer Republik von 1919 fand sich mit dem Artikel 142 ein Satz, der später fast wortgleich im Grundgesetz von 1949 wieder auftauchte: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.“ Von der „Lex Heinze“ von 1900 bis zum „Schmutz- und Schundgesetz“ gab es in Reich wie Republik freilich zahlreiche Versuche, „unzüchtige“, politisch missliebige Schriften wie Gerhart Hauptmanns Schauspiel „Die ­Weber“, Filme über gleichgeschlechtliche Liebe oder Groschenromane zu zensieren. Jelavich erzählt die Geschichte der Kunstfreiheit auch als die ihrer Einschränkung. Noch 1957 wurden in Düsseldorf Comics öffentlich verbrannt.

Der Quantensprung ereignete sich für den Historiker ab 1949. Aus dem Paragrafen 5, Absatz 3 des Grundgesetzes – „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“ – ergibt sich, was Jelavich einen „deutschen Sonderweg“ nennt. Die explizit genannten Wis­sen­schaft­le­r:in­nen müssen sich an die Verfassung halten, die nicht genannten Künst­le­r:in­nen nicht.

Peter Jelavich: „Kunstfreiheit: Eine deutsche Ideologie“. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2025, 184 Seiten, 19,90 Euro

Die Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren

Der „absoluten Freiheit“ Christov-Bakargievs näherte sich das Bundesverfassungsgericht 1971 an, als es über Klaus Manns Roman „Mephisto“, der vom Nazimitläufertum Gustaf Gründgens' handelt, urteilte, dass die „engagierte Kunst von der Freiheitsgarantie nicht ausgenommen“ sei. Nimmt man dessen Urteil von 1984 hinzu, dass die „Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren, nicht von der verfassungsrechtlichen Pflicht entbindet, die Freiheit des Lebensbereiches zu schützen“, wird das Dilemma deutlich, vor dem die Documenta 15 in Kassel 2022 stand: Ein tendenziell antisemitisches Bild wie Taring Padis berüchtigtes Banner „People’s Justice“ konnte zwar freiwillig abgehängt, hätte aber nicht verboten werden können.

Ein Vorgang, der sich 37 Jahre zuvor mit der Absetzung von Rainer Werner Fassbinders antisemitisch grundiertem Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ am Frankfurter Schauspiel schon einmal abgespielt hatte. Kulturdezernent Hoffmann und Oberbürgermeister Wallmann kritisierten das Theater, verhindern konnten sie die Aufführung nicht. Intendant Rühle zog das Stück zurück.

Peter Jelavich gehörte 2022 zu der Kommission, die die Documenta „fachwissenschaftlich“ begleitete. Er weist keinen Ausweg aus diesem verfassungsrechtlichen Dilemma. Eine Mehrheit für eine Grundgesetzänderung wäre nicht absehbar. Zuzustimmen ist seiner ­Forderung, dass „Tendenzkunst“ à la ­Taring Padi, wenn sie sich schon auf die Kunstfreiheit beruft, auch der Kritik an ihren politischen Aussagen stellen sollte. Eben das hatten die Ku­ra­to­r:in­nen der Documenta, das Kollektiv Ruangrupa, abgelehnt.

Das eigentliche Paradox der Kunstfreiheit birgt aber der Untertitel von Jelavichs Studie. Folgt man dem Historiker, dann ist Kuratorin Christov-Bakargiev mit ihrem emphatischen Bekenntnis nämlich eine späte Gefangene einer „Ideologie“. Für den Wissenschaftler entsprang das Institut der „Kunstfreiheit“ nämlich einer spezifischen sozialökonomischen Machtkonstellation des 19. Jahrhunderts.

Betrachtete das aufstrebende Bürgertum damals die Kunst mit Friedrich Schiller als „Zwischenstation auf dem Weg zur politischen Freiheit“, zog es sich nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution 1848/49 auf eine Kunstfreiheit zurück, die ihre politischen Ansprüche aufgab und nur noch der „Selbstkultivierung des Bürgertums“ diente.

Immanuel Kant lieferte mit seinem „interesselosen Wohlgefallen“ den philosophischen Überbau für diesen „Machtdeal“. Wer sich heute auf die Kunstfreiheit beruft, reanimiert also eigentlich einen Idealismus, der das Gegenteil dessen bezweckte, was „engagierte“ Kunst eigentlich anstrebt.

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