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Die Postkarten des DeportiertenZwischen den Zeilen

Ausgehend von 32 Postkarten seiner 1941 von den Nazis ermordeten Großeltern hat der Schwede Torkel S. Wächter seine Familiengeschichte rekonstruiert.

Erinnerungsstück: Postkarte, die Torkel Wächter fand. Bild: Privat

HAMBURG taz | Die letzte Postkarte datiert vom 6. Dezember 1941, dem Tag, an dem Gustav und Minna Wächter mit 753 anderen Hamburger Jüdinnen und Juden nach Riga deportiert wurden. Kurz darauf wurden sie im Konzentrationslager Jungfernhof ermordet. Fast 60 Jahre später findet ihr Enkelsohn Torkel S. Wächter diese Postkarte und 31 andere in einem Karton auf dem Dachboden seiner Eltern in Stockholm.

Sechzehn Jahre zuvor war sein Vater Michaël gestorben. Viel wusste Wächter über dessen Vergangenheit bis dahin nicht: Dass er als Sohn einer jüdischen Familie in Hamburg aufgewachsen, noch während des Zweiten Weltkrieges aus Deutschland geflohen war und sich in Schweden schließlich ein neues Leben aufgebaut hatte. Doch darüber sprechen wollte der Vater nie.

Erst als er 1999 beschloss, Schriftsteller zu werden, fand Wächter die Kraft, sich mit dem Nachlass seines Vaters auseinanderzusetzen. Was auf den in Sütterlin geschriebenen Postkarten stand, von denen die meisten in Hamburg abgestempelt waren, verstand er zunächst nicht. Jahrelang hat Wächter dann akribisch recherchiert, hat sich die Postkarten von Hamburger Rentnerinnen und Rentnern transkribieren lassen, hat selbst begonnen Deutsch zu lernen, Historiker und Zeitzeugen befragt und die Familiengeschichte rekonstruiert.

Die Postkarten hat Torkel S. Wächter schließlich auf der Internetseite 32postkarten.com noch einmal verschickt – jeweils genau 70 Jahre später – und schließlich ein Buch darüber geschrieben: „32 Postkarten – Post aus Nazideutschland. Das Schicksal einer deutsch-jüdischen Familie aus Hamburg vor der Deportation“ (Acabus, 180 S., 14,90 Euro).

Vorsichtig sind die Postkarten formuliert, der rote Stempel der nationalsozialistischen Postzensur findet sich auf jeder von ihnen. Um etwas über das Schicksal der Großeltern zu erfahren, musste Wächter zwischen den Zeilen lesen. Kein Wort davon, dass Walter Wächters Zähne – so nannte sich der Vater noch in Hamburg – während seiner Haft im KZ Fuhlsbüttel ausgeschlagen worden waren. In der Karte wünscht Minna Wächter ihrem Sohn nur baldige Genesung.

Seit dem 30. Januar 2013 führt Torkel S. Wächter seine Spurensuche mit dem Projekt „On this day 80 years ago“ (onthisday80–yearsago.com) fort. Auch hier veröffentlicht er exakt 80 Jahre später Originaldokumente aus dem Leben seines Großvaters aus dem Frühjahr 1933, versehen mit Anmerkungen und Kommentaren: Briefe, Tagebucheinträge, Vernehmungsprotokolle. Auch das Ergebnis dieser historischen Spurensuche erscheint nun in Buchform: Geschrieben ist „Die Ermittlung“ (Acabus, 264 S., 14,90 Euro) als Kriminalgeschichte. Diese Woche stellt Torkel S. Wächter das Buch zweimal in Hamburg vor.

■ Torkel S. Wächter liest in Hamburg aus „Die Ermittlung“: Di, 5. 5., 19.30 Uhr, Geschichtswerkstatt Eimsbüttel, Sillemstraße 79; Do, 7. 5., 19.30 Uhr, Buchhandlung Lutz Heimhalt, Erdkampsweg 18

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