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Die Pirouetten des Professors

Verwirrung bei Stuttgart 21: Dessen Erfinder Gerhard Heimerl befürwortet jetzt einen Ergänzungskopfbahnhof. Damit erklärt er das Projekt im Grunde für unzulänglich.

Wendehals Gerhard Heimerl bei der Grundsteinlegung für den Tiefbahnhof 2016. Foto: Joachim E. Röttgers

Von Oliver Stenzel↓

So langsam wird es unübersichtlich. Quasi aus dem Nichts wird die Idee eines völlig neuen Gäubahntunnels im Zusammenhang mit Stuttgart 21 in die Diskussion geworfen. Und der offenbart die zwei Jahrzehnte alte, immer wieder ehern von S-21-Befürwortern verteidigte alte Streckenführung als das, was Projektkritiker schon immer sagten: eine komplette Fehlplanung (Kontext berichtete).

Und als wäre das schon nicht genug, meldet sich der Erfinder der S-21-Idee, der emeritierte Stuttgarter Verkehrswissenschaftler Gerhard Heimerl, in einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“ gemeinsam mit dem früheren Projektkritiker Klaus Amler zu Wort. Und wirft noch mehr über den Haufen. Nicht nur, dass er den Gäubahntunnel im Prinzip gut findet, er plädiert auch noch für einen (unterirdischen) Ergänzungskopfbahnhof für Stuttgart 21, wie es Landesverkehrsminister Winfried Hermann im vergangenen Jahr vorgeschlagen hat.

Im zusammenfassenden Text auf der StZ-Homepage liest sich das so: „Der Ergänzungsbedarf rühre von völlig neuen Rahmenbedingungen her, sagte Heimerl jetzt: Von den Zielen, das Klima zu schützen, die Zahl der Fahrgäste im Bahnverkehr zu verdoppeln und einen Deutschlandtakt einzurichten mit Verbindungen zwischen größeren Städten im 30-Minuten-Takt.“

Eine aparte Feststellung: War denn nicht das Versprechen, die Leistungsfähigkeit des alten Hauptbahnhofs zu verdoppeln, in den 1990ern eines der zentralen Argumente für die Stuttgart‑21-Station gewesen? Das hatte sich dann zwar nach und nach verringert – bei Geißlers Faktencheck 2010 war nur noch von 30 Prozent mehr Leistung die Rede, und die bis heute in Aussicht gestellten Kapazitäten der Tiefhaltestelle bewerten auch inter­natio­nale Experten mehr als skeptisch. Doch das jetzige Plädoyer für eine Ergänzung klingt schon sehr nach: S 21 braucht diesen zusätzlichen Halt, damit das, wofür es ursprünglich versprochen wurde, auch eingehalten werden kann. Die projekt­kritische Gruppe „Ingenieure 22“ spann dies logisch weiter: „Prof. Heimerl gesteht mit seinem neuerlichen Vorstoß … ein, dass seine Ursprungsidee für einen ergänzenden Durchgangsbahnhof in den Händen von Politik und Deutscher Bahn offenbar völlig verunstaltet wurde und letztlich zu einer Fehlplanung missraten ist.“

Der Kombibahnhof war die Ursprungsidee

Tatsächlich kommen Heimerls neuerliche Einschätzungen, wenn man seine Äußerungen der letzten Jahre verfolgt hat, nicht ganz überraschend. Schon 2016 hatte er, auch da in einem StZ-Interview, für einen Ergänzungs-, also Kombibahnhof bei Stuttgart 21 geworben. Und 2014 hatte er die geplante Gäubahnführung über die S-Bahnstrecke auf den Fildern vehement mit scharfen Worten kritisiert – nachdem er keine vier Jahre zuvor ebenso vehement die S-21-Gegner für ihre Kritik an eben dieser Gäubahnführung kritisiert hatte. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich Heimerl so oft widersprüchlich zu dem auf seiner Idee beruhenden Projekt geäußert, dass man leicht den Überblick verlieren konnte – oder eben den Eindruck gewinnen, dass es sich hier um einen äußerst wendigen Wissenschaftler handelt.

Woran kein Zweifel besteht: Am Anfang von Heimerls Idee stand ein Kombi­bahnhof. Mitte der 1980er entwickelte er das Konzept eines Durchgangsbahnhofs, der den bestehenden Kopfbahnhof im 90-Grad-Winkel kreuzen sollte. „Sein Vorschlag galt nur für den Fernverkehr Mannheim – Stuttgart – Ulm – München“, so der Ingenieur und frühere Bundesbahndirektor Sven Andersen in einem lesenswerten Artikel von 2010, „der Kopfbahnhof sollte für alle übrigen Verkehre erhalten bleiben.“

War Heimerl ein Getriebener?

Für diese frühe Phase der Stuttgart-21-Idee hat Kontext-Kolumnist Joe Bauer in einem früheren Text eine sehr hübsche Anekdote parat. Ein befreundeter Bahn­ingenieur habe damals in Stuttgart bei Heimerl studiert und sich erinnert: Des Professors „Idee von S 21 und der NBS nach Ulm war eine bewusst theoretische Planstudie als Anregung für die Studierenden, wie man heute solche Vorhaben angehen müsste … Die Skizze sei nie als konkreter und praktischer Vorschlag für Stuttgart gemeint gewesen, schon wegen des offensichtlichen Missverhältnisses zwischen Aufwand und Nutzen und der nicht vorhandenen Erweiterungsmöglichkeiten einer unterirdischen Gesamtanlage. Nachdem die Politik dann mit einiger Verspätung unversehens den Ansatz aufgriff, habe Heimerl nolens volens gute Miene zu dem Spiel machen müssen. … Dass die Immobilien-, Bau- und Finanzbranche die Idee dermaßen an sich ziehen würden (womit dann das Thema Eisenbahn letztlich zum irgendwie hingebogenen Abfallprodukt deklariert wurde), habe Heimerl nicht ahnen können und müssen. Natürlich hätte seine Uni bei ‚logischen‘ Voraussetzungen ein solches Projekt als nicht sinnvoll bezeichnen müssen. Doch auf der hohen politischen Ebene hätte Heimerl dann schlecht sagen können: Ätsch, wir haben nur ein Späßle gemacht. Und nachdem für positive Studien im Auftrag der DB AG viel ‚Drittmittel‘ winkten und parallel das Land an den Unis sparte, war die Ausgangslage wieder etwas anders.“

War Heimerl also ein Getriebener? Daran lassen wiederum die Schilderung Andersens und einige Veröffentlichungen Heimerls zweifeln: 1988 war er mit einer Denkschrift zu seiner Ursprungsidee – also dem Durchgangsbahnhof nur für die Strecke von Mannheim nach München – an die Öffentlichkeit gegangen. In den kommenden Jahren wurden von Bahn und Landesregierung verschiedene Varian­ten dieser Lösung geprüft. Ende 1992 habe sich abgezeichnet, dass die Bahn zumindest einem Durchgangsbahnhof für den Fernverkehr nicht abgeneigt war, wobei sie den eher am Rande des Rosensteinparks prüfen wolle.

In dieser Situation hätten Heimerl sowie Jürgen Wedler, damals Vizepräsident der Bundesbahndirektion Stuttgart, eine Chance gesehen für die Idee eines tiefergelegten Hauptbahnhofs an Stelle des Kopfbahnhofs, wie Andersen beschreibt: Die beiden „sahen nun eine Möglichkeit darin, mit städtebaulichen Aspekten durch die freiwerdenden Bahnflächen die Politik in Baden-Württemberg ganz auf ihre Seite zu bringen“. Was auch gelang, wie man heute weiß. Dass es die „große Chance für die städtebauliche Entwicklung der topographisch beengten Kernstadt“ war, die letztlich den Ausschlag für Stuttgart 21 in der bis heute verfolgten Form gab, stellte Heimerl selbst 1994 fest. Andersherum gesagt: Wäre das Projekt nicht zum Immobilienprojekt gemacht worden, hätte es wohl keine Chance gehabt.

Da ist es wieder eine bemerkenswerte Pirouette, wenn Heimerl nun, im aktuellen StZ-Interview vom 11. Juli 2020, die Stadt Stuttgart dafür kritisiert, dass sie aus Sorge um den Wohnungsbau keine zusätzlichen Gleise für einen Ergänzungsbahnhof möchte: „Das ist zu kurz gedacht“, sagt Heimerl, „die Stadt darf nicht nur an den Wohnungsbau denken.“ Letzteres ein unverhohlener Seitenhieb auf den grünen Baubürgermeister Peter Pätzold, der sich als wackerer Verteidiger der Wohnbauinteressen auf jedem Quadratzentimeter der irgendwann einmal durch S 21 frei werdenden Flächen geriert.

Eine Haltungs-Rochade könnte man dies auch nennen: Während der S-21-Erfinder auf einmal mehr oder weniger explizit sein Baby als unzulänglich geplant darstellt und die Gründe kritisiert, wegen derer es überhaupt durchgesetzt werden konnte, macht sich der ehemalige Stuttgart-21-Gegner Pätzold nun für die möglichst pure Umsetzung des von ihm früher kritisierten Projekts stark.

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