■ Die Niedersachsen-Wahlen entscheiden das Schicksal der Bundes-SPD. Denn nur mit Schröder wird sie Kohl schlagen können: Der Mann der Mitte
Die niedersächsische Landtagswahl am 1.März wird die Bundestagswahl vom September vorentscheiden. Denn es geht auch um den Kanzlerkandidaten der SPD. Nur wenn die niedersächsische SPD ein glänzendes Ergebnis einfährt, das positiv von den Landtagswahlresultaten der letzten Jahre absticht, bei denen die SPD jeweils vier bis acht Prozent verlor (so 1994 im Saarland fünf, 1995 in NRW vier) – nur dann hat Gerhard Schröder eine Chance, Spitzenkandidat zu werden. Und auf den kommt es an.
Wir wissen aus der Wahlforschung, daß zu etwa 50 Prozent die sogenannte Parteiidentifikation entscheidet, für welche Partei ein Wähler stimmt. Zu etwa 25 bis 30 Prozent fallen die Kompetenz ins Gewicht, die einer Partei in bestimmten Politikfeldern zugesprochen wird, sowie die Positionen, die sie in aktuellen Streitfragen einnimmt. Und nur zu etwa zehn Prozent spielt der Spitzenkandidat eine Rolle. Wenn es aber auf einige tausend Wähler ankommt, dann kann der Kandidat entscheidend sein. Vor vier Jahren hatten CDU, CSU und FDP einen Vorsprung von gerade mal 150.000 Stimmen.
Die jetzigen Umfragen täuschen, sie sind butterweich und für das Wahlergebnis fast irrelevant. 40 Prozent der Wähler wissen noch nicht, welche Partei sie am 27. September wählen werden. Was da heute hochgerechnet wird, hat wenig mit präziser Prognose zu tun. Dennoch zeigen Umfragen immerhin eine Tendenz an. Das gilt auch für jene berühmte Frage der Meinungsforscher, welcher SPD- Kandidat mehr Chancen hätte, Kohl zu schlagen. Was von der Meinungsforschung außer acht gelassen wird, ist, daß die CDU erfahrungsgemäß kurz vor der Wahl ihre Stammwähler aus den katholischen und kleinbürgerlichen Restmilieus viel besser zu mobilisieren vermag als die Sozialdemokraten ihre Hochburgen. Dazu bedarf es besonderer Dramatisierungen. Vor vier Jahren half die Rote-Socken-Kampagne der CDU/CSU.
Für Schröder spricht, daß er, anders als Lafontaine, nicht für einen christdemokratischen Lagerwahlkampf instrumentalisierbar sein dürfte, daß er zudem die Mitte anspricht. Schröder wird in Umfragen Wirtschafts- und Zukunftskompetenz zugewiesen, zwei Bereiche, in denen bekanntlich die Wahlentscheidung fällt.
Wohlgemerkt, dabei geht es nicht um tatsächliche Kompetenz, sondern nur um das Image. Aber Images entscheiden Wahlen, ob einem das paßt oder nicht. Selbst wenn es zuträfe, daß Schröder als „Mann der Mitte“ keine neuen Wähler gewönne, dann ließen sich konservative Sympathisanten im Dunstkreis der CDU und der CSU mit ihm schwerer mobilisieren als mit Lafontaine, den man leicht zum Bürgerschreck ausstaffieren kann. Und auf die Gelegenheit, mit einem Lagerwahlkampf à la Rote Socken zu beginnen, lauern die Konservativen. Eine derartige Peter-Hintze-Kampagne wäre doppelt schlitzohrig: In den alten Bundesländern werden die Kleinbürger an ihren antikommunistischen Vorurteilen gepackt und zur Wahlurne geschoben, auf daß es – verbunden mit Leihstimmen, die die FDP erhält – für Schwarz-Gelb wieder reicht. In den neuen Bundesländern aber wird gleichzeitig die PDS so gestärkt, daß sie die Fünfprozentklausel oder drei Direktmandate packt. Wenn Schwarz-Gelb die Mehrheit verfehlen sollte, reicht es wegen des PDS-Erfolges – so das Kalkül – auch nicht für Rot-Grün. Also käme die Große Koalition unter Wolfgang Schäuble.
Klar ist: Lafontaine wird in der Mitte für die SPD nichts zugewinnen, vielmehr eher den Grünen Stimmen abjagen, so die Erfahrung im Saarland und bei den Bundestagswahlen 1990. Die entscheidenden Wechselwähler in der Mitte erreicht Lafontaine nicht. In einem Lagerwahlkampf aber treibt er ungewollt einige Unentschlossene in die Arme der CDU.
Mithin kein Wunder: Lafontaine ist des Kanzlers Lieblings- Gegenkandidat. Warum zieht Kohl wohl so präsidentiell und werbewirksam in diesen Tagen ein Dutzend Mal nach Niedersachsen? Es gilt Schröder zu drücken, jede Sogwirkung aus dem niedersächsischen Wahlergebnis für dessen Kanzlerkandidatur zu verhindern. Und macht es nicht stutzig, daß stockkonservative Journalisten Lafontaine plötzlich über den Klee loben? Zu ihnen gehört Klaus-Peter Mertes, der sich im Wahlkampf 1994 durch seine RTL-Interviews „Zur Sache Kanzler“ blamiert hatte, weil sie die Grenze peinlich- devoter Anbiederung überschritten.
Nun mag man einwenden, was Schröder in der Mitte gewinnt, verliert er auf der Linken. Wirklich? Der gewerkschaftlich organisierte Facharbeiter kann durch Schröders Biographie gewonnen werden, über der mehr sozialdemokratischer Stallgeruch liegt als über der seines Kontrahenten: in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, Lehre, zweiter Bildungsweg, Sozialaufsteiger. Und nehmen wir den sozialdemokratischen 68er- Traditionalisten: Dieser wird entweder zähneknirschend und trotz Schröder wieder SPD wählen, oder er wechselt zu den Grünen. Damit bleibt seine Stimme aber im rot-grünen Lager. Folglich: Schröder ist der eigentliche Kandidat für eben diese Koalition.
Ein anderer Einwand gegen Schröder greift ebenfalls nicht: „Die Partei“ sei gegen ihn und für Lafontaine, das wäre zum Beispiel auf dem Parteitag in Hannover deutlich zu spüren gewesen. Richtig ist, daß sich nach einer Emnid- Umfrage vom Juni 1997 69 Prozent der Parteimitglieder für Schröder aussprachen. Andere Untersuchungen ergeben ein ähnliches Bild für sozialdemokratische Mandatsträger und untere Funktionäre. Die Delegierten zum Bundesparteitag bilden die Ausnahme, sie sind in keiner Hinsicht repräsentativ für „die SPD“. Und ins Reich historischer Legende gehört, daß die aktiven Funktionäre den Wahlkampf führten, zum Beispiel Plakate klebten und dies einem Spitzenkandidaten Schröder verweigerten. Nun favorisiert die Mehrheit der Aktivisten in den Ortsvereinen offenkundig sowieso den Niedersachsen. Zudem: Plakate wurden von diesen zuletzt in den 60er Jahren geklebt. Heute führen Werbefirmen und andere Profis die Wahlkämpfe.
Das Fazit: Wer nüchtern Chancen durchrechnet, kommt zu dem Ergebnis, daß Rot-Grün am ehesten mit Gerhard Schröder zu erreichen ist. Oskar Lafontaine hingegen ist der geborene Vizekanzler-Kandidat einer Großen Koalition unter Wolfgang Schäuble.
Die Frage bleibt, ob die SPD wirklich an die Macht will. Wenn ja, dann müßte sie alles auf eine Karte setzen. Der Joker heißt Gerhard Schröder. Peter Lösche
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