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Die Neuerfindung der GrenzeZwei Gesichter

Offene Grenzen, steigende Mobilität einerseits, Mauern und Lager anderseits. Der Soziologe Steffen Mau analysiert die Grenzen als „Sortiermaschinen“.

Der Soziologe Steffen Mau analysiert die Bedeutung von Grenzen Foto: Matthias Heyse/Humboldt Universität Berlin

Nun sind wieder Ferien und nach Corona verreisen wieder mehr Menschen in den Herbst. Knapp 1,5 Milliarden Reisende zählte das Jahr 2019 auf touristischen oder dienstlichen Fahrten, der Einbruch des Folgejahrs ist auch im laufenden nicht kompensiert. Etwa 60 Prozent der Deutschen geben an, im Verlauf eines Jahres andere Länder zu besuchen. Zum Vergleich: 1950 notierte das Worldwatch Institute 25 Millionen Tou­ris­t*in­nen, 26 Prozent der Deutschen gaben damals an, überhaupt je im Ausland gewesen zu sein – viele noch mit der Wehrmacht.

Diese Entwicklung untermalt etwa seit 1989 eine Erzählung, die Verflüssigung behauptet, Öffnung, große Freiheit. Die Gestalt der Grenze habe ihren Dienst getan, Mauern und Schlagbäume seien Bauwerke der Vergangenheit. Ihr Rückbau fördere Austausch und Wohlstand. Nur ist dem leider nicht so, stellt der Soziologe Steffen Mau in einem Essay fest, mit dem er ein Forschungsprojekt auswertet.

Mau faltet eine weit differenziertere Sichtweise auf: Belegt, dass seit der Jahrtausendgrenze „mehr fortifizierte Grenzen errichtet wurden als in den fünf Dekaden davor“, außerdem würde die Funktion der Grenze immer stärker ausgebaut, biometrisch unterstützt, aus digitalen Datenquellen gespeist, mit Beobachtung zu Lande, zu Wasser und aus der Luft ergänzt. Befestigte Grenzen markierten vor allem sozioökonomische Ungleichheit: „Mauer­grenzen sind oft Wohlstandsgrenzen.“

Dafür hat sich die Kontrollgrenze der Länder des Globalen Nordens von der territorialen Demarkation gelöst und ihre Funktion in andere Länder, auf andere Kontinente getragen – die EU etwa operiert am Knotenpunkt Agadez, sortiert mitten in der Sahara ihre Interessen. Das Nordamerikanische Freihandelsabkommen bedeutete, dass Mexiko mit einer Kaskade von Grenzfunktionen durchzogen ist, der Wirtschaftsraum selbst will sich schon in Mittelamerika verbarrikadieren.

82,4 Millionen auf der Flucht

Den Reisenden standen Ende 2020 laut UN-Flüchtlingshilfswerk 82,4 Millionen Flüchtlinge gegenüber, weit über 10 Millionen von ihnen leben in Lagern in der Nähe der Wegsperren. Solche Lager zeigen die Filterfunktion der Grenze an, ihre klassifizierende Kraft: Hier wird die Membran zwischen Ländern und Territorien undurchlässig, Zugang verwehrt.

Das Buch

Steffen Mau: „Sortier­maschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“. Edition Mercator, München 2021, 189 S., 14,95 Euro

Steffen Mau liest diese Prozesse als komplexes Ineinandergreifen von politischer Ausrichtung, an Grenzen manifestiere sich das Zusammenfallen von Territorialraum und Mitgliedsraum, das staatliche Monopol der Mobilitätskontrolle. Mehr noch, an der Grenze wird auch kognitiv die Trennlinie zwischen „eigen“ und einem vereinheitlichenden „fremd“ gezogen – der Streit um das Begriffspaar wird mit Blick auf kulturelle Zugehörigkeit auch überstaatlicher Gebilde wie der EU ausgefochten, soll den Zugang steuern.

Der technisch gestützte, durchgliedernde Prozess ist von einer Mechanik unterbaut, die weit vorausgreift: Je ärmer die Länder des Globalen Südens, desto schwerer sind Visaprozesse und desto teurer für ihre Bürger. Der Norden verstärkt Risikoabschätzung, Symbole der Souveränität rüsten den Staat mit einer „Politik des Negativen“ (Andreas Reckwitz) auf. Nicht nur das Theater, das Donald Trump an der Grenze zu Mexiko inszenierte, wies nach innen: Der Staat soll handlungsfähig erscheinen, unerwünschte Zustände verhindern, abmildern können.

Grenze und Grenzschutz fallen darin eine besondere Rolle zu: „Die Ausschließlichkeit des Territoriums führt dazu, dass gefühlte Bedrohungen – seien es irreguläre Migration, grenzüberschreitende Kriminalität, ein Virus oder Terrorismus – als räumlich separierbar (und damit beherrschbar) erscheinen.“

Corona und die Mobilitätskontrolle

Die Grenzschließungen beim Ausbruch von Covid-19 haben die längst vergangen geglaubte Rolle des Staats als biopolitischer Akteur wieder hervorgeholt – Mobilitätskontrolle selbst in grenzenlos angenommenen Binnenräumen. Daneben wird wirtschaftliches Interesse an Zuwanderung gewichtet, Jüngere, besser Ausgebildete sollen Grenzen leichter passieren.

Steffen Maus Buch mit der zentralen These, dass andere unsere wachsende Mobilität mit wachsender Immobilität bezahlen, ist hervorragende Reiselektüre für den Herbst.

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3 Kommentare

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  • die grenzen verlaufen nicht zwischen den völkern, sondern zwischen oben und unten...

  • 1G
    17900 (Profil gelöscht)

    "Solche Lager zeigen die Filterfunktion der Grenze an, ihre klassifizierende Kraft: Hier wird die Membran zwischen Ländern und Territorien undurchlässig, Zugang verwehrt."

    Das ist nichts Neues sondern gängige Praxis, z.B. in den USA, Kanada, Australien, Schweiz ......



    Wer Geld hat, kann recht einfach diesen Selektionsprozess umgehen.



    Wer kein Geld hat, fällt der Gemeinschaft des aufnehmenden Staates zur Last.



    Das Asylrecht versucht hier einen moralischen Ausgleich zu finden.

    • RS
      Ria Sauter
      @17900 (Profil gelöscht):

      Was geschieht, wenn ungebremst Menschen in ein Land kommen, in dem sie nicht beheimatet sind, zeigt die Vergangenheit.



      Wo leben die Ureinwohner/innen in den USA, in Schweden, Finnland, Neuseeland etc?



      Ein unbegrenztes, im wahrsten Sinne des Wortes, wandern von hier nach dort würde für viele Menschen nichts Gutes bedeuten.

      Deshalb sind Grenzen wichtig und noch wichtiger ist Asyl für Verfolgte.