: Die Mülltonne des Kontinents
Autoboom und Massentierhaltung haben die Niederlande total verdreckt / Jetzt ist sogar die Regierung des Christdemokraten Lubbers bei dem Versuch gestürzt, ein teures Umweltschutzprogramm durchzusetzen / Ökologie ist seit Jahren ein Lieblingsthema der Niederländer, jetzt ist es zum Wahlkampfthema auch für die Europawahlen geworden ■ Von Henk Raijer
Ed Nijpels, Umweltminister im christlich-liberalen Kabinett Lubbers, ist geradezu populär, sogar bei seinen Widersachern in den Umweltorganisationen. Wo immer er auftaucht, ob bei Bürgenforen oder Demonstrationen, stets kommt er per Bahn oder Fahrrad angereist. Hollands oberster Umweltschützer weiß, was er seinem Ruf schuldig ist. Gern kokettiert er während solcher Anlässe mit seinem persönlichen Bewußtwerdungsschub. Seinem Auditorium im Bürgersaal von Krimpen, dessen Bevölkerung auf einer ehemaligen Gifmülldeponie wohnt, eröffnete der Minister jüngst, die Geburt seiner Tochter im Tschernobyl-Jahr habe in ihm den Entschluß reifen lassen, die „Sorgen von morgen“ - die Lösung der Umweltprobleme - nicht der Industrie zu überlassen.
Sorgen für morgen - Prognosen über den Stand der Umwelt im Jahr 2010, so der Titel einer Studie, die dem Umweltminister vor einigen Monaten vom „Reichsinstitut für Gesundheit und Umweltschutz“ (RIVM) angeboten wurde und in der Presse große Beachtung fand. Ergebnis der einjährigen Forschungsarbeit des RIVM: Die Niederlande sind das am meisten verschmutzte Land der Erde und werden in absehbarer Zeit in Gift und Gülle ersticken. So tummeln sich auf den Straßen des mit nur 41.000 Quadratkilometern dichtestbevölkerten Flächenstaats der Welt allmorgendlich sechs Millionen Autos und bilden einen insgesamt 115 Kilometer langen Stau.
Daneben beschert die industriell betriebene Massentierhaltung den Niederlanden nicht nur Riesenexportprofite, sondern auch jährlich 67.000 Tonnen Ammoniak, das auf den Feldern verdampft. Dieser Prozeß trägt nicht nur zur Bildung des sauren Regens bei, sondern gefährdet auch das Grundwasser. Jährlich verschwinden Unmengen an Schwermetallen ins Erdreich, darunter 10.000 Kilogramm Cadmium und Millionen Kilogramm Kupfer. Am meisten beeindruckt jedoch hat die Niederländer die Prognose des RIVM zum Thema „Treibhauseffekt“: Wenn sich tatsächlich die globale Temperatur der Erdatmosphäre durch die Emission von zum Beispiel Kohlendioxid, Fluorchlorkohlenwasserstoffen und Methan erhöht, könnte der Meeresspiegel weltweit um 70 Zentimeter klettern - ein bedrohliches Szenario für ein Drittel des Territoriums und die Hälfte der Bevölkerung, die sich nach der Fertigstellung des großangelegten Delta-Plans endlich in Sicherheit glaubte.
Apokalypse-Stimmung
In ihren jüngsten Neujahrsansprachen bekundeten Regierung, Gewerkschaften, Unternehmerverbände und Königin Beatrix ihre Bereitschaft, in konzentierter Aktion ein Sofortprogramm zu entwickeln und auch tatsächlich umzusetzen, um zu verhindern, daß ihr Land zur „Mülltonne des Kontinents“ verkommt. Sollte etwa ein solch staatstragendes Bündnis den Ernst der Situation - einen möglichen Kollaps des Ökosystems - erfaßt haben, daß es nun allen EG-Vereinbarungen zum Trotz der Umwelt absolute Priorität einräumen wird? Die Rheinkatastrophen, die Nitratverseuchung landwirtschaftlicher Nutzflächen und der saure Regen haben zweifellos zu einer gewissen Apokalypse-Stimmung auch bei Politikern beigetragen. Doch ist es ebenso die besondere politische Kultur dieses Landes, diese spezielle Ausformung bürgerlicher Hegemonie - gemeinhin als Toleranz und Liberalität ausgelegt - die der Vereinnahmung nicht nur von Umweltthemen, sondern darüber hinaus von Ökologie-Bewegungen Vorschub geleistet hat.
Durch ihre große Akzeptanz in der Bevölkerung und ihre Autorität, die sich auf Kompetenz gründet, ist Hollands ehemals radikale Öko-Bewegung salonfähig geworden. Regierungsstellen und Unternehmer lassen sich von professionellen Umwelttechnologen aus der „Szene“ gerne und regelmäßig über Fehlentwicklungen, Mängel und mögliche Alternativen beraten, wenn sie nicht bereits eigene Umweltexperten auf der Lohnliste haben. Umweltdachverbände wie „Milieudefensie“ und „Natuur en Milieu“ galten als Umweltgewissen der Nation und erfreuten sich breiter Zustimmung.
Eine „soziale Bewegung“ für die Erhaltung der Umwelt gibt es in den Niederlanden nicht erst seit der Entdeckung des Ozonlochs, des „Treibhauseffekts“ oder der Rheinverschmutzung durch schweizerische und bundesdeutsche Chemiegiganten. Ohne die Sisyphusarbeit der annähernd 600 lokalen, regionalen und nationalen Ökologiegruppen, die nun schon seit gut 20 Jahren Mißstände aufdecken, Druck ausüben, Alternativen entwickeln und mitbestimmen, wäre ein solches Einvernehmen, wie es hier heute in der Frage des Umweltschutzes existiert, kaum denkbar.
Starke Umweltlobby
Etwa 550.000 Niederländer sind heute Mitglied oder Förderer irgendeines Umweltverbandes. Es sind, wie überall in Europa, die 30- bis 45jährigen mit guter Ausbildung und politisch linker Präferenz, die sich gegen Bodenverseuchung, Zerstörung von Natur und Landschaft durch exzessiven Straßenbau, Luftverschmutzung, Lärmbelästigung, Dumping chemischen Industriemülls und Energievergeudung engagieren.
Das Horrorszenario Grenzen des Wachstums des Club of Rome stand 1972 Pate bei der Gründung der „Stichting Natuur en Milieu“. Von Anfang an orientierte sich „Natuur en Milieu“, heute 10.000 Förderer, Abonnenten und Aktivisten, auf die Beeinflussung des Regierungsapparats durch Partizipation am Entscheidungsfindungsprozeß. Um in den Regierungskommissionen zum Thema Umweltverschmutzung ernst genommen zu werden, setzte „Natuur en Milieu“, die keine neue, sondern eine aus drei älteren Naturschutz-Vereinen hervorgegangene, an neue Erfordernisse angepaßte Institution war, auf Professionalität. Bis Mitte der 70er Jahre forderten 22 „Natuur en Milieu„-Vollzeit-Mitarbeiter mit Unterstützung ihrer Basis Mitspracherecht bei Fragen des Naturschutzes und der Flächennutzung. Statt sich in Politik -Kritik aufzureiben, informiert die Stiftung über die Vergehen einzelner Industrien, über Umweltschutzbestimmungen und Grenzwerte, konkrete Produktions- und Konsumtionsalternativen, strengt Prozesse an, sucht den Kontakt zu Abgeordneten und gibt ein Monatsheft heraus. In ihrer Grundhaltung hinsichtlich der Atompolitik der Regierung weist „Natuur en Milieu“ insbesondere auf die Gesundheitsrisiken hin, denen die Bevölkerung ausgesetzt ist; gesellschaftskritische Argumente, wie zum Beispiel den Zusammenhang von Polizeistaat und Macht der Atomlobby, klammert „Natur und Umwelt“ bis heute aus.
Der „Vereniging Milieudefensie“ (Umweltschutz) in Amsterdam gehören circa 70 Basisgruppen mit insgesamt 15.000 Mitgliedern an. Neben der stetigen Einflußnahme auf die nationale und regionale Politik versucht die Organisation seit 1972, durch Aufklärung und bürgernahe Kampagnen, wie zum Beispiel Anti-Spraydosenaktionen in Supermärkten, eine Bewußtseinsänderung zu bewirken. „Milieudefensie“ hat eine ausgesprochen grüne Utopie: eine Gesellschaft, in der Menschen in kleinen Gemeinschaften leben, dezentral in kleinen Betrieben arbeiten, nur die natürlichen Energiequellen benutzen und sich von landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus der eigenen Region ernähren. Auch dieser Verein vollzog ab Mitte der 70er Jahre eine Wende: Im Bewußtsein, daß zuerst eine allgemeine Veränderung der bestehenden Gesellschaftsordnung nötig sei, um den großen Umweltproblemen Herr zu werden, begab man sich auf die Suche nach Bündnispartnern. „Milieudefensie“ fand Anschluß bei kritischen Gewerkschaftern, Kirchen und lokalen Aktionsgruppen. Zentraler Aktionspunkt in den Jahren 1977 bis 1979 war die landesweite Koordination großer Anti -Atomkraft-Demonstrationen. Als niederländischer Ableger von „Friends of the Earth International“ beteiligt sich „Milieudefensie“ 1989 am Kampf gegen den „biologischen Holocaust“ in der Dritten Welt, an der weltumfassenden Kampagne gegen Rodung und Verarbeitung tropischer Hölzer. Zu Beginn der 80er Jahre ergriff die allgemeine Resignation über den politischen Effekt von großen überregionalen Protestaktionen und lokal begrenzten Sitzblockaden auch „Milieudefensie“. Der Zeitgeist verlangte einen pragmatischeren Ansatz. Unmengen von Broschüren, Stickern, Plakaten und Buttons wurden seither produziert, Bürger informiert, beraten, ausgebildet und angehalten, zu spenden oder ihre Kommunalpolitik mit lästigen Fragen zu Pestiziden, Giftmülldeponien oder Trinkwasserverunreinigung in die Verantwortung zu nehmen.
Gegen die Atompolitik ihrer Regierung machten fast alle Öko -Bewegungen mobil. Zu landesweiten Protestaktionen kam es erst, als die Niederländer zu drei Prozent Energie -Sonderzuschlag für die Beteiligung am Gemeinschaftsprojekt „Schneller Brüter“ in Kalkar verdonnert werden sollten. 1974 demonstrierten in diesem nordrhein-westfälischen Städtchen 10.000 Niederländer, als es in der Bundesrepublik noch keine nennenswerte Anti-AKW-Bewegung gab.
Schwache grüne Partei
In den Jahren 1974 bis 1979 schlossen sich der Anti -Atomkraft-Bewegung Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und auch die anderen Öko-Bewegungen an: Atomkraft war das Thema der Stunde. Ein nationales Koordinationskomitee (LEK) schaffte es, bei zunehmend mehr Menschen und Organisationen Zweifel über Nutzen und Akzeptierbarkeit von Atomkraft als friedliche und saubere Energiequelle zu säen. Als sich auch der nationale Gewerkschaftsdachverband NVV anschloß, sah sich die Regierung gezwungen, sich in die breite öffentliche Diskussion einzuklinken, bevor sie ihren rigorosen Atomkurs fortsetzen konnte.
In Folge richteten sich die Protestaktionen insbesondere gegen die Entsorgung atomaren Mülls, gegen die Verklappung von Atommüllfässern in der Nordsee. Auch gegen Probebohrungen im Norden des Landes zur Erforschung der Möglichkeiten eines Endlagers für Abfallprodukte aus Atomreaktoren entstand massiver Protest. Unter diesem Druck beschloß die Regierung 1979, weitere Atomprojekte ruhen zu lassen.
1984 und erst recht nach dem Wahlerfolg 1986 fühlte sich die Regierung Lubbers stark genug, die Pläne für den Bau weiterer Atomreaktorzentralen wieder aufzunehmen. Diese Entscheidung führte aber nicht zu einer Renaissance der „Bewegung“.
Eine lebensfähige „grüne“ Partei hat sich bis heute, trotz der niedrigen Wahlhürde von einem Prozent, nicht etablieren können. Zwar gibt es das „Groen Platform“, das „Groen Progressief Akkord“ der kleinen linken Fraktionen PSP, PPR und CPN mit zwei Sitzen im Europäischen Parlament sowie „De Groenen“ mit einem Mandat im Amsterdamer Stadtrat. Das Etikett „grün“ jedoch haben sich offenbar einige Splittergruppen nur umgehängt, weil sich das bei Provinzial und Kommunalwahlen auszuzahlen scheint. Der Grund für das Fehlen einer nationalen grünen Partei ist der, daß im Gegensatz zur Bundesrepublik und Belgien die traditionellen Parteien bereits seit Jahren die Umwelt zum integralen Bestandteil ihrer Programme gemacht haben, und zwar auf Druck ihrer Basis und der Öko-Bewegungen. Die lokalen „grünen“ Parteien haben dagegen bezeichnenderweise so gut wie keine Bindungen an die Umweltorganisationen.
20 Jahre Einspruch, Mitsprache, Lobby-Arbeit, Demonstrationen und Blockaden - was haben sie gebracht? Geändert haben sich bei vielen Bürgern Fortschrittsgläubigkeit, Technikhörigkeit und Konsumgewohnheiten, bei linken Parteien die ausschließliche Betonung des sozialen Aspekts von Arbeit. Zwei Lehrstühle für „Umweltkunde“ hat die Universität von Amsterdam mittlerweile eingerichtet. Und einen Umweltminister gibt es heute, der allerdings nahezu vollständig abhängig ist von den Brieftaschen seiner Ressortkollegen aus Wirtschaft, Finanzen und Verkehr. Der Erfolg - die zeitweilige Verhinderung eines weiteren Ausbaus des Atomprogramms sowie die massenhafte Ablehnung dieser Technologie in der Bevölkerung, das Engagement von Anwohnern gegen Giftmülldeponien, Umweltauflagen für industrielle Produktion und Verhaltensänderungen im Privaten - hat eine „Bewegung“ gegen Umweltvergehen, so scheint es, überflüssig gemacht. Bündnisse von aufgebrachten Bürgerinitiativen mit ihren Gemeinderäten sind heute politisch effektiver als kontinuierliche Aufklärungs- und Motivationsarbeit von Umweltorganisationen: Politiker und Parteien können es sich nicht länger erlauben, über umweltpolitische Aspekte hinwegzugehen.
Innerhalb der Öko-Institutionen hat sich indes ein Besinnungs- und Reinigungsprozeß vollzogen. Die „Denker“ (oder „Fundis“) haben die Hoffnungen auf eine veränderte Gesellschaftsordnung noch nicht aufgegeben; die „Macher“ (oder „Realos“) dagegen haben diese Illusion inzwischen längst zugunsten konkreter Interventionsmöglichkeiten innerhalb der Industriegesellschaft begraben. Ihre Devise lautet: „Ökologische Modernisierung“ des bestehenden Produktionssystems.
Kennzeichnend für den neuen Pragmatismus ist, daß die neuen Umwelttechnokraten die „körnerfressenden“ Ökophilosophen neuerdings schlicht ablehnen. Eine Zusammenarbeit über ideologische Grenzen hinweg ist nahezu unmöglich geworden. Dagegen mobilisieren die neuen Pragmatiker die Naturwissenschaft, auch sozialtechnologische Experten sind gefragt. Insofern die institutionalisierte Öko-Bewegung überhaupt noch diskutiert, geht es um das Wieviel und Woher von finanziellen Mitteln. Die Hinterfragung der Ziele und eine Anbindung an andere gesellschaftliche Themen und Gruppen scheinen überholt, überholt in dem Sinne, daß erstens nach der Wirtschaftskrise der 70er Jahre und dem politischen Rechtsruck der frühen 80er radikale Gesellschaftskritik nicht länger opportun ist. Zweitens haben das Umweltbewußtsein und damit auch die Ökobewegung insgesamt an Terrain gewonnen. Genau diese Position der Stärke möchten die neuen Pragmatiker nicht verspielen. Der größte Teil der „Bewegung“ hat seine hehren politischen Ideale und die dazugehörigen Utopien in die Mottenkiste „endgelagert“. Nach dem Motto „If you can't beat them, join them“ verfolgen Hollands Öko-Institutionen heute Perspektiven mittlerer Reichweite.
Diesen Beitrag entnahmen wir dem soeben erschienenen Sammelband Natürlich Europa. 1992 - Chancen für die Natur. Volksblatt-Verlag Köln. 24,80 DM
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