Die Magie des Surfens: Auf kosmischer Energie übers Meer
Fünf Wochen lang hat unser Autor als Surflehrer-Assistent auf Fuerteventura gearbeitet. Am liebsten wäre er dort geblieben.
Tag 0
Die Maschine setzt zum Sinkflug an, vor dem Fenster zieht Fuerteventura vorbei. Eine karge Wüstenlandschaft, doch zugleich ist die Insel so voller Leben wie kein anderer Ort, den ich kenne. Ich bin zurück. Endlich.
Tag 1
Die Flagge der Surfschule flattert unter dem blauen Septemberhimmel. Im Unterstand befinden sich die Surfbretter und Neoprenanzüge, an der Wand hängt eine Tafel, auf der die Schülerinnen und Schüler in Gruppen eingeteilt sind. Vor sieben Jahren stand mein Name zum ersten Mal auch auf dieser Tafel. Nun aber bin ich nicht nur hier um zu lernen, sondern auch um zu lehren – als Surflehrer-Assistent, fünf Wochen lang. Das Praktikum ist Teil der Surflehrer-Ausbildung. Jeder, der viel surfen möchte und nicht in Meeresnähe lebt, merkt schnell, dass Urlaub nicht reicht, um genügend Zeit am Strand zu verbringen – und auch zu teuer ist. Als Surflehrer wird man dafür bezahlt. Was kann es Besseres geben?
Mein Kollege Victor erklärt mir, wie man die Surfboards sicher auf dem Dach des Landrover Defenders festschnallt und was es beim Fahren des Autos zu beachten gibt. Mit den Schülern geht es zum Strand, doch die Wellen sind klein und kraftlos. Und es regnet. Immerhin lernen unsere Schüler ihre erste Lektion: Beim Surfen braucht man Geduld.
Tag 2
Der älteste Schüler heute ist 62 Jahre alt. Er sagt, er mache schon seit zehn Jahren Surfurlaub, „während meine Freunde über die Rente sprechen“. Er sagt: „Das Alter ist Kopfsache.“
Tag 4
Die Wellen sind größer heute und versetzen manche Schüler ein wenig in Schrecken. Und doch geht es beim Surfen genau darum: sich den Naturgewalten auszusetzen. Du paddelst auf deinem Board aufs Meer hinaus, dorthin, wo sich die Energie der Wellen entlädt, die tausende Kilometer durch den Ozean gereist sind. Du denkst nicht mehr. Du bist einfach ein Teil des Ozeans, im besten Fall zugleich tiefenentspannt und hochaufmerksam. Schließlich rollt eine passende Welle heran, dein Puls steigt, und du stürzt dich in die sich aufbauende Wasserwand hinein. Du springst auf die Füße und saust die Welle hinab, rast auf kosmischer Energie über das Meer.
Denn die Wellen haben ihren Ursprung in der Sonne. Ihre Kraft ist es, die Teile der Erdatmosphäre erwärmt. Daraus entstehen Druckunterschiede, die Stürme erzeugen. Deren Energie überträgt sich auf das Meer und das Wasser. Bis schließlich der sogenannte Swell auf eine Küste trifft und die Welle bricht. Vielleicht schauen Surfer deshalb manchmal so entrückt: weil sie Teil von etwas sind, das nicht von dieser Welt kommt.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Tag 7
Ein Surfschüler paddelt direkt wild drauflos und so weit aufs Meer, dass ich ihn zurückpfeifen muss. Ich muss wohl etwas autoritärer sein. Anfänger, die schon ein bisschen Erfahrung haben, sind die gefährlichsten. Sie denken, sie können schon alles, doch wenn es schlecht läuft, geraten sie in eine Strömung, aus der sie es aus eigener Kraft nicht mehr ans Ufer schaffen. Oder sie driften in Richtung von Felsen, die wie Drachenzähne aus dem Wasser ragen. Wenn einen eine Welle dort drauf schleudert, dann gute Nacht.
Tag 8
Zwei Holländer Mitte vierzig sind im Kurs. Sie surfen schon seit Jahrzehnten, aber meist nur eine Woche im Jahr. Damit kommt man nicht weit. Ich weiß noch, wie ich 2019 in Fuerteventura zum ersten Mal einen vollen Monat surfen war. Erst in der vierten Woche fügte sich alles zusammen. Wellen, die viele Tage zu groß für mich waren, machten mir keine Angst mehr. Und Surfer, die hier lebten, fragten mich auf einmal nach meiner Einschätzung zu den Wellen. Mich! Als ich zurück in Deutschland war, hatte ich sieben Kilo Bürospeck verloren, mich von einem blassen Enddreißiger-Journalisten in einen braungebrannten, definierten Wellenreiter verwandelt. Ich war endgültig ans Surfen verloren.
Tag 12
Joachim, der Chef der Surfschule, will, dass ich mich heute um eine 50-jährige Frau kümmere. Es ist ihr letzter Urlaubstag und sie will zum allerersten Mal Surfen ausprobieren. Ich soll ihr alle Grundlagen beibringen: Wo die Wellen brechen, wie die Strömung verläuft, wie sie sich sicher im Wasser verhält, wie man auf dem Brett liegt, paddelt, sitzt, wendet, surft. Wir üben in hüfthohem Wasser an einem Sandstrand. Ihre Haltung auf dem Brett ist gut, vielleicht, weil sie viel Yoga macht. Zum Ende hin surft sie ihre ersten Wellen. Stehend. Strahlend.
Tag 15
Victor hatte gestern seinen letzten Tag. Der neue Surflehrer kommt erst in einer Woche. Ich darf nun den zweiten Landrover fahren und – unter Aufsicht – meine eigene Gruppe unterrichten. Yay! Meine Schülerinnen und Schüler scheinen zufrieden zu sein. Johannes nennt mich einen entspannten Kerl: „Mr. Paddlepower, der durch das Wasser pflügt, immer die Schäfchen im Blick hat, über das Reisen und Surfbücher quatscht und mitten im Satz auf eine Welle springt, wenn er eine gute entdeckt.“
Es macht mir viel Spaß, mein Wissen weiterzugeben, und ich freue mich, wenn jemand etwas gut hinbekommt. Obendrein lerne ich selbst dazu. Auch das treibt mich an: besser zu werden.
Tag 21
8.45 Uhr, ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Vormittags unterrichte ich in der Surfschule, nachmittags mache ich Recherchen und schreibe Artikel. So wäre es also, hier zu leben. Ich war schon an einigen Orten zum Surfen in Europa, aber nichts toppt Fuerte. Ich bin zum 17. Mal auf der Insel, knapp ein Jahr in Summe. Und ich kenne etliche weitere, die ständig wiederkommen. Das liegt auch an der Insel, die eine große Ruhe ausstrahlt. Hier finde ich vollends zu mir. Die alten Griechen nannten die Kanaren „Inseln der Glückseligkeit“ und meinten damit das Paradies.
Viele von uns würden am liebsten einfach bleiben, jeder deutsche Wellenreiter kennt diesen Konflikt. Auf einmal hat man zwei Leben. Eins in Deutschland und eins in den Wellen und beide lassen sich herzlich schlecht miteinander vereinbaren. Der Schriftsteller Andreas Brendt hat das auf den Punkt gebracht. Brendt brach 1996 zu seinem ersten Surftrip auf. Und als er aus Bali und Australien zurückkehrte, war auf einmal „jeder Tag in Köln so ein bisschen auch ein verlorener Tag“, denn er hatte nun ein „Weltwunder“ in seinem Leben, das auf ihn wartete.
Tag 22
Heute kam ein ordentlicher Swell an der Nordküste an. 1.000 Kilojoule Energie pro Welle, mit 15 Sekunden Periode, dem Abstand zwischen zwei Wellen. Das ist sportlich. Wir bleiben weiter vorne am Ufer, die meiste Energie entlädt sich an den äußeren Riffen. Trotzdem haben alle Schüler große Mühe, nicht fortgetrieben zu werden. Surflehrer Francesco – ein warmherziger Italiener, der oft und viel lacht – und ich beordern alle weiter an die Küste. Die Strömung ist zu stark.
Ein bisschen bekloppt ist das Surferleben schon. Man bezahlt viel Geld, um ein paar Wochen im Jahr in den Wellen sein zu können – und dann sind die meisten auch noch schlecht. Vom Wind zerblasen, zu klein, zu stark, zu viele Leute im Wasser. Manchmal surft man nur ein oder zwei passable Wellen in einer ganzen Session. Wenige Sekunden, die aber so intensiv sein können, dass sie einen lange tragen. Und dann kommst du aus dem Wasser und lachst den Rest des Tages alle an.
Tag 24
Ich habe alles richtig gemacht. Meine Surfschüler geben mir Bier aus. Das Nachtleben auf Fuerteventura, besonders im Surferstädtchen Corralejo, ist einzigartig. Hier brennt jede Nacht die Luft. Alle sind gut drauf, trinken Tequila, freuen sich des Lebens auf die Abenteuer am nächsten Tag.
Über die Jahre habe ich hunderte Surfer kennengelernt. Manche halten uns für aufgesetzte Möchtegern-Individualisten, die alle Flipflops tragen und Jack Johnson hören. Und das stimmt ja irgendwie auch. Natürlich sind wir zum Teil nur Touristen eines bürgerlichen Mittelstandes, die bezahlen, um an einem Lifestyle teilzuhaben, der mittlerweile in jedem zweiten Fernseh-Werbespot verkauft wird. Doch die Hingabe und Leidenschaft die ich hier spüre, bei mir selber wie bei vielen anderen, ist so stark! Das Leben in den Wellen und unter den anderen Verrückten, die, um mit den Worten Jack Kerouacs zu sprechen, wie fabelhafte römische Kerzen brennen, ist zu intensiv, als dass man es vergessen kann.
Tag 29
Ich war vier Tage krank und bin froh, wieder im Wasser zu sein. Ich assistiere dem neuen Surflehrer Pepe am Stadtstrand in Waikiki. Er heißt so wie der in Honolulu, Hawaii, wo das Surfen und seine Kultur vor gut 100 Jahren wiedergeboren wurden, nachdem puritanische Missionare es fast ausgerottet hatten.
Wir sind erst eine halbe Stunde im Wasser, da hat eine Schülerin keine Kraft mehr zum Paddeln. Sie hält sich an meiner Leash, der Leine, fest, und ich ziehe sie zurück zum Strand. Am Anfang bringt einen das Paddeln um, alleine die Körperhaltung ist für viele Folter, da man den Oberkörper, während man bäuchlings auf dem Brett liegt, so weit nach oben beugen und halten muss wie möglich. Doch das Paddeln macht nun einmal den Hauptteil des Surfens aus. Irgendwann lernt man es zu lieben. Es gibt wahrlich Schlimmeres, als seine Hände in kristallklares Meerwasser zu tauchen.
Tag 34
Heute nur eine Schülerin. Ich glaube, sie ist mäßig begeistert. Vier Lehrer-Augen, die sie ständig im Blick haben und Verbesserungsvorschläge anbieten.
Tag 36
Heute war mein letzter Tag an der Surfschule. Ich habe den Schülern Tipps für einen guten Take-off (das Aufspringen auf das Brett) und die Positionierung im Line-up (dem Punkt im Wasser, an dem man auf die Wellen wartet) gegeben. Heute Nacht ist Halloween. Auf den Kanaren feiern sie das ein bisschen wie die Mexikaner den Tag der Toten. Ich lasse mein Gesicht von meiner Make-up-Künstlerin in ein schwarz-weißes Totenkopf-Gesicht verwandeln. Es soll leuchten wie die Nacht.
Übermorgen geht es zurück nach Deutschland. Am liebsten würde ich direkt hierbleiben und weiterarbeiten, aber mir fehlt noch die Surflehrer- und Lebensretter-Ausbildung. Mein Herz ist ein bisschen schwer, doch wie kann ich traurig sein, wo ich doch ein Weltwunder in meinem Leben habe?
Am Anfang des Surffilms „Mavericks“ sagt Gerard Butler, der darin den Surfer Frosty Hesson spielt: „Wir alle stammen aus dem Meer, doch nicht alle fühlen sich dem Meer verbunden. Wir, die es tun, wir Kinder der Gezeiten, müssen immer und immer wieder dorthin zurück.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland