: Die Machtschaukel
■ »Nichts für Kinder« von der Roten Grütze im Theater der Freundschaft
Wieder ist Gewalt im Spiel zwischen der lieben Mami (Ingrid Ollrogge), die sich ausgehlustig ins lange Kleid gequetscht hat, und dem störrischen Zwerg (Günter Jankowiak im 190-Zentimeter-Strampelanzug und mit abstehenden Ohren), der aus Protest die hastig in ihn hineingestopften Kekse nicht schlucken will und mit Ersticken droht. So fängt's an im neuen Stück der Roten Grütze Nichts für Kinder: Kaum einen Piep kann man sagen und muß schon die ersten Machtproben bestehen. Noch ist es Liebe, worum beide, Mutter und Sohn, kämpfen.
Szene für Szene werden die Karten neu gemischt und die Rollen von oben und unten über das Spiel »Die Reise nach Rom« neu verteilt. Mit Akkordeon und Saxophon, »valse musette« und Kinderliedern heizen Peter Haas und Thomas Keller den Reigen auf und werden zu Komplizen des jeweiligen Gewinners, bis ihre wieder neu einsetzende Musik die fast immer bedrückenden Endsituationen auflöst und die nächste Runde einläutet.
Der Vater, der die Schulhefte der Tochter kontrolliert; die Mutter, die den Sohn, den alten Pisser, entnervt verprügelt; der Erzieher, der die Neue moralisch zur Abgabe ihrer Bonbons erpreßt — verflucht! Die Anlässe scheinen so nichtig, so alt, längst gegessen. Wird man als Kind denn ewig für den gleichen Mist zur Sau gemacht, als habe sich in 40 Jahren trotz aller Pädagogik für und anti nichts am Mief in deutschen Kinderstuben geändert. Aus den Kinderdramen springt das Stück in Szenen einer Ehe zwischen ihr am Rande des Nervenzusammenbruchs und ihm am Abgrund des leeren Kontos und in ein wüstes Spiel von der Rekrutenausbildung, in dem Heidi mit den aufgekrempelten Hosenbeinen die Parole »Spaß muß sein« wie eine Peitsche über dem unsicheren Jungen schwingt, der unbedingt ein Mann werden soll.
So wirken die Konflikte und Dialoge, nun ja, nicht eben taufrisch. Wahrscheinlich ist der Anspruch der Innovation für ein Theater, dessen Publikum immer wieder nachwächst, nicht so wichtig. Gerettet wird Nichts für Kinder durch die Wachheit des Spiels, meilenweit entfernt von Betulichkeit und aufgesetzter Infantilität. Ollrogge und Jankowiak bleiben immer zwei Erwachsene, die wissen, wie komisch sie wirken, wenn sie ganz ernst Kinder spielen, und die deshalb mit selbstbewußter Ironie der Lächerlichkeit entgehen. Sie schlüpfen nicht nur in verschiedene Rollen, weil Schauspielern ihr Beruf ist. Sie führen die Möglichkeit der Selbstinszenierung, die man mit dem zweiten Atemzug im Leben zu erlernen beginnt, als Kunst des Überlebens vor: Wer eben noch gedeckelt und zurechtgestutzt wurde, grapscht sich beim nächsten Mal die Rolle dessen, der die Maßstäbe vorgibt und die Richtung anzeigt. In diesem Wechselspiel liegt zugleich ein Versprechen ausgleichender Gerechtigkeit und die erschreckende Erkenntnis, daß so der erfahrene Druck transformiert immer weitergegeben wird.
Am Ende räumen Ollrogge und Jankowiak die Bühne auf wie zwei Kinder nach einem etwas ausgeglittenen Spiel das Wohnzimmer. Sie haben die Konflikte, die ihnen das Leben noch bescheren kann, alle schon mal geprobt.
Nichts für Kinder wirkt ein wenig wie eine Westentaschenausgabe des letzten Stücks der Roten Grütze Gewalt im Spiel. Helma Fehrmann, die dabei kräftig auf der Bühne mitmischte, hat jetzt die Regie übernommen. Doch in der Reduktion auf zwei Spieler schaukeln die Konflikte zu regelmäßig auf und ab; zu dritt waren überraschende Momente, Rollenbrüche, ein Kippen der Machtverhältnisse immer noch möglich. Katrin Bettina Müller
Nichts für Kinder vom Theater Rote Grütze. Heute das letzte Mal um 20 Uhr im Theater der Freundschaft, Hans-Rodenberg-Platz 1, Berlin 1130 nahe dem U-Bahnhof Frankfurter Allee; ab 23. November im Café Schalotte, Behaimstraße, Berlin 19.
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