: Die Macht des Schweigens
AUS HANNOVER ELKE SPANNER
Am Abend des 15. Juni 2006 gewinnt Schweden das WM-Fußballspiel gegen Paraguay 1:0. Auch Michael P. jubelt, als in der letzten Spielminute doch noch das Tor fällt. Er ist spät dran, seine Freunde sitzen schon im Biergarten Bischofshol, aber Michael P. ist noch immer bei seiner Exfreundin Karen Gaucke, um wieder mal über den Unterhalt für sie und die gemeinsame Tochter Clara zu streiten. „Komme später“, schreibt er eine SMS. Als er schließlich eintrifft, fragt ihn keiner, wie das Treffen war – gerade wird die zweite Halbzeit angepfiffen. Ihnen sei nichts aufgefallen, geben die Freunde später bei der Polizei zu Protokoll.
Sie wollen eine Antwort
Gabriele Gaucke fährt mit der Hand flüchtig über das Jackett ihres Hosenanzugs, als müsste sie letzte Krümel abschütteln, um ihre Vorbereitungen auf diesen Moment endgültig abzuschließen. Sie blickt zu den Zuschauerreihen des Saals im Landgericht Hannover, beugt sich dann zu ihrem Mann und wagt einen kleinen Scherz. Den beiden steht heute eine harte Konfrontation bevor: Gleich werden sie dem mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter und Enkelin gegenübertreten.
Die beiden sind oft gefragt worden, warum sie sich das antun, zum Prozess nach Hannover zu kommen. Aber sie haben auf diese Begegnung hingefiebert, und jetzt ist der Moment endlich da. Seit Monaten hat niemand Michael P. mehr gefragt, wo er die Leichen ihrer Tochter Karen und deren Baby Clara versteckt hält. Alle Bemühungen waren bislang vergebens – P. sitzt in Untersuchungshaft und schweigt. Die Gauckes wollen ihm wenigstens in die Augen schauen. Sie wollen eine Antwort.
Michael P. war einmal so etwas wie ihr Schwiegersohn, wenn auch nur kurz. Die Beziehung zwischen ihm und Karen dauerte nur wenige Wochen. Die 37-Jährige, die aus Freiburg im Breisgau stammt, arbeitete als Controllerin bei TUI in Hannover. Michael P. war bei einer Tochtergesellschaft beschäftigt. Als sie sich kennenlernten, glaubte Karen zunächst an eine gemeinsame Zukunft als Familie. Dann erfuhr sie, dass eine Kollegin ebenfalls von Michael P. schwanger war. Noch ehe Clara am 7. November 2005 zur Welt kam, trennte sich Karen von Michael P. Der zog mit seiner anderen Freundin zusammen und wurde zwei Monate nach Claras Geburt Vater eines kleinen Sohnes.
Dennoch hatten Karen und Michael P. gelegentlich Kontakt. Meist ging es dann um die Frage des Unterhalts. 700 Euro sollte der Diplomkaufmann monatlich an Karen zahlen, weitere 250 Euro für Clara. So hatten sie es mit dem Jugendamt ausgehandelt. Doch Karen glaubte, dass Michael ihr Einkünfte vorenthielt. Immer wieder stritten sie darüber.
Am Abend des 15. Juni, als Mutter und Kind verschwanden, telefonierte Karen noch gegen 19.30 Uhr mit einer Freundin. Um 20 Uhr sollte Michael kommen, erzählte sie der. Dem wolle sie endlich „richtig die Meinung sagen“. Tatsächlich klingelte Michael P. kurz darauf an ihrer Wohnungstür im Volgersweg. Das hat er vor der Polizei eingeräumt. Allerdings, behauptete er, habe Karen ihm nicht aufgemacht. Dann reißt die Geschichte für zwei Stunden ab. Niemand weiß, was in dieser Zeit geschehen ist. Gegen 22 Uhr trifft Michael P. in der Waldgaststätte Bischofshol ein. Schweden gewinnt.
Zeit der Ungewissheit
Von Karen und Clara fehlt seitdem jede Spur. Immer wieder hat die Polizei die Wälder zwischen Hannover und Braunschweig mit Suchtrupps und Leichenspürhunden durchkämmt. In Seen und Teichen sind Taucher auf den Grund hinabgestiegen, um im aufgewühlten Schlamm nach den Toten zu suchen.
Tatsächlich haben sie dort Leichen gefunden, zweimal sogar. Karen und Clara Gaucke waren es nicht. Es handelte sich um einen jungen Selbstmörder, der mehrere Wochen im Wasser gelegen hatte, sowie um den seit 1992 vermissten Dirk S. Dessen Angehörige wurden durch den Zufallsfund 14 Jahre nach dem Verschwinden des damals 19-Jährigen aus ihrer Ungewissheit erlöst.
Für Hans und Gabriele Gaucke dauert diese Ungewissheit nun über ein halbes Jahr an. Sie selbst beschreiben die Zeit als Folter: Erst die pure Unsicherheit, warum Karen sich nicht mehr meldet, sie war immer so zuverlässig. Dann die böse Ahnung, dass etwas passiert sein könnte. Der erste Anruf bei der Polizei in Hannover, von Freiburg aus, wo Vater und Mutter, beide pensionierte Lehrer, im Wohnzimmer ihres Einfamilienhauses beisammensaßen und endlich etwas tun wollten in ihrer Ungeduld. Es sollten noch viele Telefonate und Gespräche folgen, unzählige Momente von Hoffnung und Enttäuschung, bis Vater Hans Gaucke die Worte endlich aussprechen konnte: „Die beiden sind tot. Daran gibt es keinen Zweifel mehr.“
Die Staatsanwaltschaft ist sich sicher, dass Michael P. Exfreundin und Baby ermordet hat. Die Indizien sprechen gegen ihn: Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Karen freiwillig verschwunden ist. Ihre Wohnung habe ausgesehen, sagten Polizeibeamte vor Gericht, als würde sie gleich zurückkommen. In der Küche, unter der Waschmaschine, fand die Polizei Karens Blut – in einer Menge, „dass wir davon ausgehen müssen, dass sie ohne ärztliche Hilfe nicht mehr leben kann“. Blutspuren gibt es auch an den Schuhen von Michael P., die er an jenem Abend trug. Und Blut auch in einem Leihwagen, einem Toyota Kombi, den er sich nachmittags in Braunschweig geliehen hatte, obwohl er selbst einen ähnlichen Wagen besitzt. Wofür er den Leihwagen gebraucht habe? Er habe das Wochenende heimlich mit einer neuen Geliebten verbringen wollen, sagte er der Polizei. Seine Lebensgefährtin, die Mutter des kleinen Sohnes, sollte nichts merken.
Michael P. hat wenige Wochen vor dem Verschwinden von Karen und Clara versucht, im Internet ein Bolzenschussgerät zu ersteigern. Außerdem hat er über eine Suchmaschine nach Stichworten wie „Mord durch Axt“ gesucht. Das hat die Polizei rekonstruiert und damit in den Akten das Bild eines Mannes gezeichnet, der eiskalt den blutrünstigen Mord am eigenen Kind und dessen Mutter vorbereitet hat.
In Hannover hat niemand Zweifel daran, dass er ein Doppelmörder ist. Am ersten Prozesstag ist schon Stunden vor Beginn klar, dass nur ein Bruchteil der Zuschauer im Saal Platz finden wird. Die Schlange reicht bis auf die Straße hinaus.
„Sag es doch!“
In der Reihe hinter der Presse sitzt eine Riege Mittfünfzigerinnen. Eine Frau hat alle Artikel über den Fall gesammelt und mitgebracht. „Guck mal, die Kleine“, sagt sie und reicht ein Foto von Clara herum, „wie süß.“
Die Sitzordnung im Prozess ist sinnbildlich. Auf der Seite der Nebenkläger sitzen alle dicht gedrängt, gegenüber sitzt Michael P. mutterseelenallein auf der Anklagebank. Der 38-Jährige hat ein freundliches Gesicht und eine weiche Stimme, doch die Zuschauer empört alles an ihm. Dass er überhaupt eine Anwältin hat – „wie kann man so jemanden bloß verteidigen“. Dass er die Anwältin freundlich begrüßt – „hör gefälligst auf zu lächeln!“ Und dass er seine prozessualen Rechte in Anspruch nimmt – die Verteidigerin berichtet, dass P. von Mitgefangenen offen angefeindet wird – „dass der sich nun auch noch darüber beklagt, was er zu Strapazen zu erleiden hat!“
Die Eltern, Hans und Gabriele Gaucke, sind zu Zurückhaltung gezwungen. Sie können nur hoffen, dass P. endlich sein Schweigen bricht und sagt, wo die Leichen sind. Sein Schweigen ist die Macht, die er über sie ausübt, da hilft nur Vorsicht. P.s Anwältin hat ihnen bereits „Vorverurteilung“ vorgeworfen. Denn die beiden haben ihn immer wieder über die Medien angefleht, endlich zu reden. „Sag es doch“, haben sie gebettelt, „damit wir endlich trauern können.“
Jetzt wollen sie ihn durch ihre bloße Anwesenheit umstimmen. Unablässig ruht Gabriele Gauckes Blick auf dem Mann, der ihre Tochter getötet haben soll. Als er ihr nun gegenübersitzt, leicht erhöht auf der Anklagebank, tut sie nichts, als ihn anzuschauen. Pure Konfrontation, der er ausgesetzt ist. Michael P. gibt sich gänzlich ungerührt. Gabriele Gaucke muss es ertragen, dass er ihrem Blick nicht einmal auszuweichen versucht.
In einer Prozesspause besorgt ihr Rechtsanwalt, Matthias Waldraff, den Gauckes Getränke. Die Betreuung geht hier weit über das rein Juristische hinaus. Fast täglich telefoniert Waldraff aus Hannover mit den Eltern. Er hat ihnen versprochen, alles in seiner Macht Stehende zu tun, das Geheimnis aus Michael P. herauszubekommen. Auch er weiß, dass er dem Angeklagten gegenüber fair bleiben muss, so schwer ihm das auch manchmal fällt. Oft hat er sich in den vergangenen Monaten insgeheim gewünscht, er würde ins Untersuchungsgefängnis vorgelassen und könnte auf Michael P. einwirken, dass er endlich verrät, wo er die Leichen versteckt. Doch ihm bleibt nur das Handwerk der Juristerei. „Die Achtung der Menschenwürde gilt nicht nur für Angeklagte, sondern auch für Opfer und ihre Angehörigen“, erwidert er deshalb nüchtern auf den Vorwurf der Vorverurteilung. „Wenn meine Mandanten hinnehmen mussten, dass Michael P. schweigt, muss er hinnehmen, dass sie alle Mittel ausschöpfen.“
Dass er das ersehnte Geständnis nicht ablegen wird, hat Michael P. gleich zu Beginn des Prozesses gesagt. Als er seine Personalien zu Protokoll gibt, sagt er, er habe „zwei Kinder. Beide sind ein Jahr alt“.
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