■ Die Linke und der Staat (7): Dem Staat geht es schlecht. Er braucht für seine Legitimation die rauhe Erziehung durch die Zivilgesellschaft: Ein langsamer Abschied
„Der Staat ist noch nicht tot, nur erst entzaubert. Aber es ist nicht auszuschließen, daß er diese Entzauberung so wenig überlebt wie weiland Gott die seine.“ So steht's am Ende von Stefan Breuers neuem Werk, das einen Titel wie die Inschrift eines Grabmals trägt: „Der Staat“.
Der Staat wird doch nicht etwa absterben, ohne uns, die Linken, die wir ihm einstmals den langsamen Tod erst nach der Revolution zudachten, und ohne daß wir ihm wenigstens ein höhnisches Adieu! hinterhergerufen haben? Stefan Breuer beruhigt uns. Noch ist der Große Leviathan nicht geschlachtet und in seine Einzelteile zerlegt. Selbst wenn der arbeitende Staat nunmehr auch gegen sich selbst arbeite, sei das „immerhin ebenfalls Beweis seiner Existenz“. Zynismus ist ein schwacher Trost fur Konvertiten, für viele von uns Ex-Anti- Staatlern, die unter dem Eindruck von Deregulierung und Privatisierung ehemaliger Staatsfunkionen nach entschlossenem Staatshandeln rufen.
Dem Staat geht es tatsächlich schlecht, Es wächst zwar, wie der Verfassungsjurist E.-W. Böckenförde meint, „die Weite seiner Aufgaben, aber in gleichem Maße wächst auch die Schwäche seiner eigenen Entscheidungskraft“. Er reguliert und steuert eben nicht souverän, als Träger des Gemeinwohls, sondern als Erfüllungsgehilfe des „industriell-wirtschaftlichen Prozesses“. Deutlicher wird der Rechtsphilosoph nicht. Sicher ist für die schwache Form des Staates in Deutschland die herrschende politische Elite verantwortlich, die den Kapitalisten jeden Wunsch von den Lippen abliest, um anschließend die öffentliche Verwaltung als Reparaturwerkstatt für die Folgen ihrer sozialzerstörerischen Politik heranzuziehen. Aber bei der „Entpotenzierung“ des Staates, verstanden als bürokratische Anstalt, spielen auch strukturelle Widersprüche mit. Sie betreffen sowohl die räumliche (nationalstaatliche) wie auch die zeitliche (weit über den Generationenzusammenhang hinausgehende) Dimension politischer Entscheidungen.
Hier kommt die vielfach verspottete und noch häufiger als der Staat totgesagte Zivilgesellschaft ins Spiel. Es stimmt: Der „civil society“ geht es momentan ebenfalls nicht besonders. Sie, die Vereinigung freiwilliger Assoziationen und autonomer sozialer Bewegungen ist eingeklemmt. Die Luft wird ihr abgepreßt zwischen gesellschaftlichen bzw. politischen Großorganisationen und den Apparaten eines gleichzeitig freß- und magersüchtigen Staates.
In der alten Bundesrepublik hatten sich Bürgerinitiativen und politische Basisinitiativen in den 70er Jahren gerade gebildet, um angesichts der Tendenz zum Korporativismus einen unabhängigen öffentlichen Raum zu erstreiten. Für viele Aktivisten dieser neuen Bewegungen mit linkem Background trat allerdings die Zivilgesellschaft an die Stelle des abhanden gekommenen historischen Subjekts. Sie neigten deshalb der Linie „Gesellschaft gegen Staat“ zu. Die institutionalisierte politische Sphäre, sei es der Staat im engeren Sinne, seien es die Parteien und Organisationen der „societa politica“, waren Feindesland. Zwischen „Etablierten“ und „Alternativen“ schaukelte sich der Vorwurf der Politikunfähigkeit hoch.
Mittlerweile hat sich herumgesprochen, daß der Staat ohne autonome gesellschaftliche Sphäre, ohne eine unabhängige Öffentlichkeit nicht existierten kann und vice versa. Fragt sich nur: welcher Staat? Nach 1989 hatten die Bürgerbewegten der DDR und ihre westlichen Freunde einen Augenblick lang die Hoffnung, ihre avancierten Positionen zum Verhältnis von Bürgern und Staat in eine neue Verfassung zu übersetzen, um damit eine zeitgemäße Form des Republikanertums begründen zu können. Der Staatsrechtler Ulli Preuß sprach damals von einem reflexiv gewordenen Konstitutionalismus. Aber daraus wurde nichts.
In dem Maße, in dem Protestbewegungen in den 90er Jahren an Bedeutung abnahmen, gerieten sie ins Blickfeld wohlmeinender Staats- und Verwaltungsreformer, vor allem auf kommunaler Ebene. Die Initiativen sollen eingebunden, ihre Energie benutzt, ihr Fleiß dadurch belohnt werden, daß sie Verfügungsmacht über Etatposten erhalten. Allerdings haben diese Integrationversuche eine höchst eingeschränkte Auffassung von dem, was autonome Initiativen auszeichnet. Die Verwaltungsreformer sprechen vom „NIMBY(Not in my backyard)-Syndrom, stellen also die „unmittelbare Betroffenheit“ der Akteure ins Zentrum. Indem sie diesen Teil der Wahrheit verabsolutieren, verdunkeln sie, worum es geht: um Legitimationsbeschaffung.
Woher kommen eigentlich die zukunftweisenden, neuen Ideen in der politischen Sphäre, und wie setzen sie sich durch? Sie kristallisieren sich um die Aktivität politischer Minderheiten, um Projekte, die als utopisch verlacht wurden. Ging es nicht in den 70er und 80er Jahren denen so, die einen grundlegend neuen, ökologisch orientierten Sicherheitsbegriff einforderten, und geht es in den 90er Jahren denen nicht ebenso, die für eine Neubestimmung von Gerechtigkeit in der Gesellschaft eintreten? In den letzten 20 Jahren hat sich erwiesen, daß es nicht hinreicht, die Gesinnugsethik der Amateure der Verantwortungsethik gegenüberzustellen. Immer wieder hat sich in den unabhängigen Initiativen und Protestbewegungen ein Gefühl für Verantwortung gezeigt, das den Rahmen nationaler Politik ebenso überschreitet wie den Horizont der agierenden politischen Generation. Der universale ethische Impetus ist attraktiv, solange er nicht elitär verkümmert, nicht seinen ursprünglichen radikal-demokratischen Ursprung verrät. Das macht es der politischen Machtelite zunehmend schwierig, ihre Legitimitat ausschließlich auf gewonnene Wahlen zu stützen.
Auch wenn unabhängige politische Initiativen gegenwärtig schwach auf der Brust sind – sie können die Verunsicherung der Bürokratien, ihre Selbstzweifel, ihre Suche nach neuen Legitimationsgrundlagen für einen neuen Demokratisierungsschub nutzen. Selbst in der harten Zone des Staatshandelns, zum Beispiel in der Außen- und Sicherheitspolitik, gibt es Chancen für neue Impulse, zu einer menschenrechtsorientierten Außenpolitik etwa oder zu friedensstiftenden Maßnahmen auch ohne Kriegsgerät. All dies wird nicht in herrschaftsfreier Diskussion erreicht werden, sondern im heftigen politischen Streit. Denn noch bedarf der Staat einer sehr rauhen Erziehung, wie es Karl Marx mal formulierte – gegen das erste sozialdemokratische Parteiprogamm. Christian Semler
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