■ Die Linke und der Staat (6): Die Fixierung auf den Staat und die Feindschaft gegen ihn haben in Deutschland die gleichen Wurzeln: Gegen die Staatsmetaphysik
Was soll die alte Staatsmetaphysik fast zwei Jahrhunderte nach Hegel? Im angelsächsischen Sprachraum heißt es nicht „state“, sondern „government“ (also Exekutivmacht). Damit wird hervorgehoben, daß es um die Regierungsgewalt im Rahmen einer demokratischen Verfassungsordnung geht, zu der das Parlament ebenso gehört wie die Gerichte.
Anders als bei der abstrakten Staatsdiskussion werden Demokratie und Freiheitsrechte nicht ausgeblendet. Vielmehr ist jeder gezwungen, genauer zu sagen, was gemeint ist: Sondervollmachten für die Regierung an der Grenze der Verfassungsmäßigkeit; Befugnisse für „Sicherheitsorgane“, die verfassungsmäßige Rechte einschränken; Gesetze, die jedem ein Existenzminimum und eine ärztliche Behandlung garantieren oder die ausschließen, daß manche Bürger überhaupt keine Steuern mehr zahlen müssen.
Die Rede vom „starken Staat“ dagegen verschleiert, daß es um zusätzliche Befugnisse für die Exekutive geht. Wer den „schlanken Staat“ postuliert, will häufig Gesetze beseitigen, die „Inhalt und Schranken des Eigentums bestimmen“ (Art. 14 Grundgesetz) oder soziale Rechte von Arbeitnehmern garantieren. So bleibt die alte Frage: Lauern unter der Maske des Staates nicht Sonderinteressen?
So ist die Rede von „dem Staat“ eine ahistorische und unscharfe Abstraktion – ähnlich wie jene von „der Linken“. Jeder muß bei einigem Nachdenken zugestehen, daß „die Linke“ eine Fiktion ist. Es gibt eine liberale, sozialdemokratische, nachkommunistische oder grüne Linke. Doch wer von „der Linken“ spricht, sagt fast nie, wen er meint. Meist dient „die Linke“ als Popanz (auf den man eindreschen kann) oder als imaginäre welthistorische Partei, die den Autor als ihren Meisterdenker verkennt.
Die Formel „Die Linke und der Staat“ suggeriert zudem, linke BürgerInnen hätten besondere Schwierigkeiten damit, die verfassungsmäßige Ordnung anzuerkennen. Das gilt jedoch nur für einen sehr kleinen begrenzten Kreis. Ob das Verhältnis der „politischen Rechten“ zum demokratischen Gemeinwesen besser ist, bleibt zudem höchst zweifelhaft. Wenn diese sich „zum Staat bekennen“, dann hat das besondere Gründe:
– Das „Bekenntnis zum Staat“ versucht die Staatstradition vom deutschen Kaiserreich über das NS-Regime bis zur Bundesrepublik zu wahren.
– Das Bekenntnis verschleiert, daß viele Kapitaleigner die Demokratie lange Zeit bekämpft hat, weil man meinte, durch „die Demokratie“ Privilegien zu verlieren.
– Das Bekenntnis ist schließlich eine Waffe, jede rechtsstaatliche, demokratische, soziale oder ökologische Einzelkritik als Angriff gegen den „Staat“ abzuwehren. Jüngstes Beispiel dafür ist Volker Rühe, der Kritik an den rechtsextremistischen Vorfällen in der Bundeswehr oder an öffentlichen Gelöbnissen zum Angriff gegen „die“ Bundeswehr und „den“ Staat ummünzte.
Manche Linke reagieren dieser sehr säkularen Staatsgläubigkeit gegenüber reflexartig mit einfacher Negation: Sie sind „gegen den Staat“. Ihre „Staatsfeindschaft“ ist nur die Kehrseite eines „Glaubens“, der den Staat zu etwas Heiligem zu machen sucht.
Ein anderes Problem ist die Staatsfixierung vieler Linker. Man meint, daß „der“ Staat, von „links“ ebenso gegen das Kapital, wie vom Kapital gegen die kleinen Leute gehandhabt werden könne; daß Staatsgewalt sowohl der Befreiung vom Joch dienen könne, wie der Unterdrückung. In den demokratischen angelsächsischen Ländern gibt es ebenfalls Versuche, Staatsgewalt für eigene Interessen zu instrumentalisieren; aber das geschieht ohne Überhöhung des Staates.
Wie können wir dieser Staatsmetaphysik begegnen? Ein Beispiel: Als 1958 die ersten Überlegungen publik wurden, den „Staat für die Stunde der Not“ auch im Inneren wieder wehrhaft zu machen, wurde jenen, die sich nicht damit abfinden wollten, daß in einem demokratischen Gemeinwesen ein Notstand zur „Stunde der Exekutive“ wird, der Vorwurf gemacht: „Ihr seid gegen den Staat!“ Die damaligen Linken wußten dieser Stigmatisierung zu begegnen. Sie beriefen sich auf die Verteidigung des Grundgesetzes gegenüber der Staatsräson. Damals wurde von Linken entwickelt, was heute als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnet wird. Man wußte: Die Fixierung auf den „Staat“ verschleiert die Probleme.
Die damaligen Linken lernten, auf verfassungsrechtliche Sicherungen zu achten, die ausschließen können, daß die massive Staatsgewalt von der Exekutive unter Ausnutzung produzierter Stimmungen eingesetzt wird. Aus dem Blickwinkel der damaligen Diskussion stellt sich die Frage, warum in Deutschland die abstrakte Staatsdiskussion erneut Bedeutung gewinnt. Was soll der problematische Substanzbegriff in einer Zeit, in der die Macht des Nationalstaates schwindet? Wozu diese erneute Mystifizierung des Staates?
Vermutlich ist die gegenwärtige Staatsdiskussion eine Ersatzhandlung. Sie verschleiert das Fehlen inhaltlicher Antworten. Auf der einen Seite erhöhen in bewährter Manier jene den Staat, die ihre eigenen Zugriffsmöglichkeiten und die der Exekutive auszubauen suchen. Denn wenn es gelingt zu zeigen, daß Menschen den Staat brauchen, tritt in aller Regel die Frage nach Verfassung und Gesetz in den Hintergrund. Auf der anderen Seite wird die Mystifizierung des Staates gebraucht, um der Frage nach eigenen Handlungsmöglichkeiten auszuweichen. Staatsdiskussion heißt: Man bewegt sich im vertrauten Denksystem und ist nicht gezwungen, darüber nachzudenken, was man selbst tun kann und mit welchen Instrumenten im eigenen Land, auf supranationaler und globaler Ebene politisch eingegriffen werden kann.
Nicht besser als der Glaube an den Staat ist der neue Glaube an „die“ Zivilgesellschaft. Kein Mißverständnis: Es geht um bürgerschaftliches Handeln und um mehr Zivilgesellschaft insbesondere in Deutschland. Doch gerade deshalb ist es problematisch, statt des Staates „die Zivilgesellschaft“ zum Subjekt zu erheben. Sowohl die Fixierungen auf den Staat wie auf die Zivilgesellschaft tragen dazu bei, Handeln auf eine andere Instanz zu projizieren und sich damit selbst zu entlasten: „Der Staat soll...!“ „Der Staat kann...“ „Die Zivilgesellschaft regelt...!“
Es geht darum, den Schritt über diese Ebene des politischen Glaubens hinaus zu tun. Nur so ist bürgerschaftliches Handeln möglich, das mitunter auch ohne Inanspruchnahme von Staatsgewalt ein Land verändern kann. Jürgen Seifert
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