■ Die Linke und der Staat (4): Die Linke bedarf der Instrumente der Staatlichkeit. Deshalb muß sie ihr mit positiver Emphase begegnen: Der Garant der Zivilisation
„Verständnis des Staates gibt es nicht nur, wenn man ihn verteidigt, sondern auch, wenn man ihn angreift“ (Antonio Gramsci).
In der Geschichte der deutschen Linken ist die Staatsfrage auf bemerkenswerte Art theoretisch einseitig diskutiert worden und praktisch ungelöst geblieben. Daß der bürgerliche Staat nur eine Instanz innerhalb des Überbaus ist, der sich über der Basis der kapitalistischen Ökonomie erhebt, dieser Staat also Instrument der bürgerlichen Klassenherrschaft ist, grub sich tief in die Mentalitäten, stiftete eine Art linken Alltagsverstand. Die Praxis der Sozialdemokraten, spätestens seit dem Ende des Ersten Weltkrieges, an der Verwaltung ebendieses Staates mitzuwirken, war theoretisch kaum begründet und wurde auch nicht zur unumstrittenen Praxis, zumal die SPD nur eine der Kräfte der Linken war, der in Form der KPD eine zwar minoritäre, dennoch aber mächtige politische Formation gegenüberstand, die diesem Staat mit radikaler Opposition begegnete.
Letztendlich markierte die Machtübernahme der Nazis das offenkundige Scheitern einer solchen sozialdemokratischen Praxis, da sich nun der Staat in seiner rabiatesten Form offenbarte. Wer hätte noch bezweifeln wollen, daß der Staat der große Widerpart der Emanzipation sei, Apparat einer Klassendiktatur – Terrorstaat?
An ihn knüpften sich nur die schlechtesten Traditionen deutscher Geschichte. Eine solche Sicht der Dinge erfuhr im Grunde keinerlei Irritation. Die SPD machte beim Wiederaufbau des Staatswesens mit, während die Christdemokraten als Hauptakteure einige Entwicklungen in die Wege leiteten, die es der kommunistischen und später der unorthodoxen Linken erleichtern sollten, den neuen bundesrepublikanischen Staat mit seinen verschiedenen Autoritäten und obrigkeitlichen Vorläufern zu identifizieren.
Daß der Staat, seine Institutionen, seine regelnde und regulierende Wirkung Agenturen der Emanzipation sein könnten, wäre wohl niemand in den Sinn gekommen. „Feuer und Flamme für diesen Staat“ – diesen Ruf kann man auch heute noch von Restbeständen linker Autonomer zu hören bekommen. Das Betriebsgeheimnis der Emanzipation heißt aus solcher Perspektive, je nach linker Couleur, „weniger Staat“, wie etwa bei liberal gefärbten Sozialdemokraten, „kein Staat“ bei den Autonomen oder, in der Sprache der kommunistischen Teleologie: „Absterben des Staates“.
Vorschnell wird in diesem Sinn der Staat als dem Kapitalismus zugehörig identifiziert, ohne das theoretische Dilemma zu bedenken, daß der Staat, seine Institutionen, seine Regeln, Steuern, Zölle, Transfers etc. exterritorial zum System der politischen Ökonomie des Kapitalismus, seinem privatwirtschaftlichen Prinzip, stehen. Die Selbstbewegung der kapitalistischen Ökonomie hat als Fluchtpunkt radikale Deregulierung. Das Marktprinzip ist ohne das ewige Drängen zum „totalen Markt“ nicht zu denken. Die einzige Form der Regulierung, die der Markt aus seiner eigenen Logik gebiert, ist die des Monopols. Alle anderen Grenzen, die dem Marktprinzip gezogen sind, sind staatliche Grenzen, und diese sind nicht einfach als unbestimmte „Gesamtinteressen“ eines virtuellen „Gesamtkapitalisten“ zu begründen. Prinzipiell läßt sich nur eine Form der staatlichen Regulierung als dem Kapitalismus grundsätzlich zugehörig formulieren: jene, daß er, um ungestört funktionieren zu können, des Gesetzes bedarf, welches die Vertragssicherheit garantiert. Alles, was über diese minimale Regulierung hinausgeht, ist Ergebnis von alten Kämpfen – die heute als Tradition wirksam sind – und von aktuellen Kämpfen um das gesellschaftliche Kräfteverhältnis.
Diese Kämpfe werden auf der Bühne des Politischen ausgetragen, ihre Ergebnisse werden als staatliche Eingriffe in die (Markt-)Ökonomie festgeschrieben. Doch seit den 70er Jahren sind der Staat und die Politik nicht nur die Bühne dieser Kämpfe, sondern selbst zum Streitfall geworden. Staat und Politik aus der Gestaltung der Wirtschaftsorganisation herauszudrängen ist selbst zu einer Parole geworden. Sie wird nicht gerade von den Kräften der Emanzipation skandiert.
Da die Staatsfrage in der deutschen Linken theoretisch undiskutiert und praktisch ungelöst geblieben war, ist eine solche Linke schlecht gerüstet, auf diese Attacke zu reagieren. Dies wird deutlich, nimmt man etwa Frankreich zum Vergleich. Die Skepsis deutscher Linker dem Staat gegenüber würde von französischen Linken nahezu aller Coleur wohl mit heftigem Kopfschütteln quittiert. Ihnen gilt der Zentralstaat, immerhin ein Kind der Französischen Revolution, als Garant der Zivilisation, nicht als Einfallstor der Barbarei. So ist man in Frankreich schneller geneigt als in Deutschland, die neue Staatsfeindlichkeit der Neoliberalen als antizivilisatorische Attacke zu realisieren.
In der BRD hingegen sind selbst klügere Köpfe der unorthodoxen und alternativen Linken vorschnell zur Stelle, den sozialdemokratischen Etatismus zu geißeln, der angeblich die kreativen Kräfte des einzelnen hemmt und die Freiheit der autonomen, selbstbestimmten Individuen umzäunt – daß hier derselbe Ton anklingt, in dem die Neokonservativen die flexiblen Unternehmerpersönlichkeiten feiern, wird nur höchst selten mit reflektiert. Die mechanistische Gegenüberstellung von Staat und Individuum, zu der eine solche Linke neigt, feiert Freiheitsgewinne, wo nichts als Staatszerstörung zu beklagen ist.
Der sozialdemokratische Etatismus gerät so ideologisch unter einen Druck, dem er nicht mehr gewachsen ist. Hinzu kommt, daß Ideologie und Hard Facts ein dialogisches Verhältnis eingehen, staatliche Regulierung ihrer realen Basis verlustig geht.
Denn wenn die große Zeit der europäischen Sozialdemokraten eng mit den goldenen Jahren des Kapitalismus (1945–1975) verknüpft war, so muß man präzisieren: Die Erfolgsstory des Nachkriegskapitalismus war die des wohlfahrtsstaatlich regulierten kapitalistischen Nationalstaates. Da der Globalisierung des Kapitalismus (noch) keine supranationale Staatlichkeit gegenübersteht, fehlen auch die Instrumentarien zur Re-Regulierung der deregulierten Welt-Marktwirtschaft.
Zwei Wahrheiten hat eine politikfähige Linke somit zu gewärtigen: Sie bedarf der Instrumente der Staatlichkeit, ihr hat sie mit positiver Emphase, nicht mit antietatistischer Skepsis zu begegnen. Zweitens ist das Terrain linker „Innenpolitik“ Europa, wenn nicht gar die Welt. Robert Misik
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