■ Die Linke und der Staat (3): Es ist an der Zeit, die mit dem Nationalsozialismus begründete Staatsfurcht endlich abzulegen: Save the Whale! Rettet den Leviathan!
Massenarbeitslosigkeit – aber obwohl die unsichtbare Hand der selbstregulierenden Kräfte die Dinge offensichtlich nicht in den Griff kriegt, mag niemand nach dem Staat rufen. Zwar beginnt man, die gegenwärtige Situation als Ultraliberalismus zu verstehen – und ausgesprochen weise beklagt man mit Verwendung dieses Begriffs die Abwesenheit von politischer Autorität und fordert einen die Wirtschaft überwölbenden Staat. Man geniert sich aber, diese Forderung auch ausgesprochenerweise aufzustellen, weil man meint, gerade in Deutschland ein geschärftes Bewußtsein für die Gefährlichkeit des Leviathan wachhalten zu müssen.
Demgegenüber ist eine prinzipielle Revision des Geschichtsbildes nötig. Denn tatsächlich stand die deutsche Tragödie keineswegs in einer Tradition exzessiver Staatstätigkeit – die deutsche Geschichte ist im Gegenteil durch die mangelhafte Herausbildung von Souverenität gekennzeichnet. Als „verspätete Nation“ hatte Deutschland nicht nur in seiner politischen Einigung, sondern auch in der Herausbildung eines Gewaltmonopols unter einer dreihundertjährigen Verzögerung zu leiden.
Der Absolutismus konnte in den deutschen Kleinstaaten nicht Raum greifen, was der demokratischen Entwicklung nicht etwa förderlich, sondern schädlich war. Erst kommt Hobbes, dann kommen Locke und Montesquieu: Erst eine von den intermediären Gewalten, den Einflüssen der Stände und des Klerus befreite, souveräne Macht kann demokratisch ausbalanciert und kontrolliert werden. Dieser Zustand war aber in Deutschland aus Mißtrauen gegen die Idee der Souveränität nicht erreicht worden. Nur Preußen machte eine Ausnahme, und Hegels Staatsauffassung stach provozierend von dem überkommenen Selbstverständis der Kleinmonarchien ab.
Nun denkt man natürlich in erster Linie an die Nazizeit, wenn man dem deutschen Geist einen Hang zum Staatsexzeß zuschreibt. Auch damit liegt man aber falsch. Die Nazi-Ideologie wurde nämlich nicht nur von einer republik-, sondern einer generell staatsfeindlichen Grundhaltung getragen. Die Deutschen hatten nach dem Ersten Weltkrieg ihre Identität in einer angeblich aus dem germanischen Blut kommenden Zentralisierungsunwilligkeit entdeckt; selbstbewußt stellten sie ein genossenschaftliches, auf persönliche Beziehungen gegründetes Gemeinschaftsideal gegen das westliche, als romanisch-fremd empfunde Konzept der Trennung von Staat und Gesellschaft.
Davon profitierten die Nazis, die nicht etwa staatsbewußt waren, sondern das System bekämpften, wie sie die außerhalb des Volkskörpers liegende fremde Gewalt nannten. Sie wendeten sich ausdrücklich gegen den Begriff „totaler Staat“, den sie den Italienern zuschoben, und setzten statt dessen auf die gleichgeschaltete, totale Bewegung.
Carl Schmitt sprach von der „Totalität des Volkes“. Das auf Hegel zurückgehende, durch Lorenz von Stein weiterentwickelte Konzept eines der Gesellschaft gegenübergestellten, das Allgemeinwohl von außen kontrollierenden Staates wurde in der Nazi-Theorie entschieden zurückgewiesen. – Daß es sich dabei nicht um leeres Gerede handelte, haben insbesondere Hannah Arendt und Franz Neumann dargelegt. An die Stelle des Leviathan war der Behemoth getreten: die Herrschaft des Mobs. Es gibt einen weiteren wichtigen Grund, in der gegenwärtigen Lage die mit dem Nationalsozialismus begründete Staatsfurcht endlich abzulegen: Die Nazis haben den Staat nicht nur unter ihre Bewegung gestellt. Sie haben ihn auch der Wirtschaft untergeordnet. Sie erlaubten der Industrie eine vorher nie gekannte Monopolisierung (wie die IG Farben, die von den Alliierten aufgelöst wurde) und eine Machtentfaltung, die durch keine staatliche Kontrolle gebremst wurde. Deshalb ist es absurd, wenn die Erinnerung an diese Epoche jetzt daran hindert, mit aller Kraft die Souveränität des Staates über die Wirtschaft anzustreben.
Zu den schmerzhaften Erkenntnissen, die sich die Linken gern ersparen wollen, gehört die Tatsache, daß die Nazi-Ideologie in dem entscheidenden Punkt der Staatsablehnung mit der marxistischen konvergierte. Diese Konvergenz rechtfertigt den Oberbegriff „Totalitarismus“, und die gemeinsame Wurzel ist (wie J. F. Talmon in den fünfziger Jahren hervorragend ausgeführt hat) Rousseau. Dessen Ideal war die Identität von Herrschern und Beherrschten, das dem Hobbesschen Konzept einer klaren Ausdifferenzierung der beiden Sphären diametral gegenüberstand.
1985 gab es in der Auseinandersetzung über „Die Linken und der Staat“ schon einmal ein historisches Treffen. Otto Schily ergriff im Spiegel die Partei des staatlichen Gewaltmonopols und verteidigte es gegenüber Antje Vollmer, die auf Volkssouveränität setzte. In der anschließenden, von Thomas Schmid moderierten Diskussion im Freibeuter waren Otto Schily und U. K. Preuß die Kontrahenten. Preuß hielt gegenüber Schily an der Konzeption fest, daß der politische Staat durch die Aufhebung der Klassenspaltung zu überwinden und das Gewaltmonopol zugunsten einer Steuerung durch Verständigung zurückzunehmen sei. Als Thomas Schmid die Schilysche Position auf die Seite von Hobbes und die Preußsche auf die Seite von Rousseau brachte, fiel das klärende Wort.
Antje Vollmer und U. K. Preuß blieben in dieser Runde die Sieger. Noch über zehn Jahre lang wurde die Diskussion von der Idee einer diskursiven Verständigung an der Basis dominiert. Man setzte auf „die nur im Plural auftretenden Öffentlichkeiten“ und „die Diskurse nicht vermachteter Foren“. Jürgen Habermas' philosophische Erhöhung des Sprechens bildete die Grundlage des Konzepts von der Zivilgesellschaft, die der Lebenswelt angehörte und von unten her das System anbaggern sollte.
„Politik in die Küchen und Wohnzimmer“ war die Devise, bei der man sich unter den Bewohnern solcher Räume nur seinesgleichen vorstellte. Konnte man sich nicht mehr als Avantgarde des Proletariats behaupten, so entdeckte man seine Bürgerlichkeit und definierte sich mit dem Stichwort „Zivilgesellschaft“ als die maßgebliche Fraktion, deren nicht enden wollende Gespräche an die Stelle von Staatsentscheidungen treten sollten. Die Politik blieb Karrieremachern überlassen, die in den Parteien ihre Aufstiegschancen sahen, während sich diejenigen, die auf das Gemeinwohl aus waren, in freiwilliger Versenkung hielten. Sibylle Tönnies
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