: „Die Kirchen werden den Deserteuren offenstehen“
■ Der Dresdner Superintendent Christof Ziemer fordert Engagement deutscher Politiker für politische Lösungen am Golf INTERVIEW
taz: Als sich im Oktober 89 eine korrupte Macht und das Volk gegenüberstanden, waren Sie in Dresden einer der ersten, die sich vermittelnd dazwischenstellten. Welche Hoffnung setzen Sie heute in den Protest gegen den Golfkrieg?
Christof Ziemer: Unsere Hoffnung kann nur dahin gehen, daß die Ausuferung des Konflikts vermieden und der Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Ich meine Ausuferung sowohl in Hinblick auf die beteiligten Parteien als auch auf die eingesetzten Waffen. Zur Zeit kann keiner übersehen, wie es weitergeht und welche Folgen dieser Krieg haben kann.
In Dresden gehen sehr viele junge Menschen auf die Straße. Es hat den Anschein: Es sind fast nur die Jugendlichen. Wie erklären Sie sich die Zurückhaltung der Elterngeneration? Ist das Gleichgültigkeit?
Zunächst etwas zu den jungen Menschen. Für mich ist das ein sehr ermutigendes Zeichen. Die Jugend war Anfang der 80er Jahre auch Inspirator der Friedensbewegung, jedenfalls hier bei uns. Es waren Jugendliche, fast noch Kinder, die damals mit „Schwertern zu Pflugscharen“ die ersten Schritte in der Friedensbewegung machten. Danach waren sie zunehmend unpolitisch geworden, bis hin zur Studentenschaft, von der ich gelegentlich gesagt habe, sie ist der angepaßteste Teil der Gesellschaft.
Heute werden Kinder, Schüler, Studenten wieder wach. Ich denke, das ist ein Indikator für eine Gefahr. Ich finde es erstaunlich, wie Kinder reagieren. Sie setzen ihre Angst um, indem sie aus der Schule rausgehen, Menschenketten bilden. Eine Schulklasse nach der anderen kommt in die Kirche, zum Teil mit den Lehrern.
Daß die mittlere Generation nicht dabei ist, denke ich, hat damit zu tun, daß sie viel stärker betroffen wird durch die alltäglichen Probleme und von daher einfach nicht so wach und bereit ist. Ich hatte aber zur ersten großen Demonstration am Freitag abend das Empfinden, daß auch viele Ältere dabei waren. Das hat mich ermutigt: Der Geist des Herbstes ist nicht tot, sie kämpfen nicht nur um die eigene Haut. Wir brauchen einen langen Atem für diesen Kampf, und den haben die Jugendlichen nicht allein.
Durch die Aktionen gegen diesen Krieg fühlen sich immer mehr Menschen zu zivilem Ungehorsam als einer Form des gewaltlosen Widerstandes ermutigt. Ich fürchte, daß sie trotzdem in der Minderheit bleiben.
Das würde ich genauso sehen. Es ist dennoch ein Phänomen, daß sich bei diesem Konflikt eine breite Bewegung gegen die Gewalt gefunden hat. Das sind Menschen, die nicht nur nach Gewaltfreiheit und friedlichen Lösungen suchen, sondern die auch bereit sind, etwas dafür zu tun. Das scheint mir die entscheidende Weichenstellung für die Zukunft zu sein. Es muß Druck dafür entstehen, daß sich Gewalt rechtfertigen muß. Die Anwendung von Gewalt muß im Gewissen der Menschen und der Völker der Rechtfertigung bedürfen. Das haben wir schon in der Ökumenischen Versammlung gesagt: Es soll sich derjenige rechtfertigen, der zum Wehrdienst geht, und nicht derjenige, der ihn verweigert. Für solch einen Konsens sehe ich Anzeichen.
Wolfgang Borcherts Mahnungen, sich jedem Dienst am Krieg zu verweigern, wird in den Friedensgebeten immer wieder vorgetragen. Können Deserteure mit dem Beistand der Kirche rechnen?
Das ist der sensible Weg, den wir gehen müssen. Wir haben noch keinen gesellschaftlichen Konsens darüber, daß Desertion eine mögliche, akzeptable Entscheidung ist. Ich denke, auch die Kirchen haben eine Aufgabe, so etwas in das politische Gespräch einzubringen und sich dafür einzusetzen. Die Kirchen werden den Deserteuren offenstehen. Anders geht es auch in der großen Institution Kirche nicht. Sie verändert sich auch nur sehr langsam und wird nur in Bewegung gebracht von denen, die dort eine neue Praxis einführen.
Welche praktischen Aktionen halten Sie jetzt für sinnvoll?
Es ist gefährlich, wenn man viele Aktionen vorschlägt, eine die andere jagt, und die Akzeptanz dafür nicht erarbeitet wurde. Aktionen, die eine Breite erreichen sollen, die brauchen eine längere Arbeit. Ein Aufruf zur Aktion hat erst dann Sinn, wenn die Menschen auch innerlich bereit sind, auf so etwas zu hören.
Ich denke, wir sollten nach dem suchen, was jetzt stimmt. Wenn wir uns jetzt nur unter Druck setzen, das nächste zu tun, zerstören wir langsam, was wir in Gang bringen wollten. Auch in Zukunft sollten wir davon ausgehen, daß die Gesprächsfähigkeit der verschiedenen Ebenen, der Politiker wie der engagierten Kreise, die zur Desertion aufrufen, erhalten bleiben muß. Damit nicht die Gräben schon vorgefertigt sind und die Feindbilder unter uns schon „stimmen“. Das ist für mich etwas, das ich gern in die neue Phase hineinretten würde. Ich sehe darin auch eine spezifische Aufgabe der Kirche. Nicht, um einen einfachen Kompromiß auszuhandeln, aber um die Spannungen auszuhalten und das Gespräch zu inszenieren.
Was erwarten Sie von den deutschen Politikern?
Ich erwarte, daß sie sich entschieden einsetzen für das Nachdenken über politische Lösungen. Wenn wir etwas zu exportieren haben in den Golf, dann sind es nicht unsere Waffen und Soldaten, sondern ist es unser Geist von Gewaltlosigkeit. Das ist doch jetzt unsere deutsche Erfahrung. Es wäre für die Welt ermutigend, wenn sich die Deutschen damit hervortun würden. Interview: Detlef Krell
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