piwik no script img

Die Jeans für die Agenten, die Kunst für das Volk

Wo Jim Avignon am Ende einer langen Nacht immer davon abgehalten werden musste, einfach weiterzusingen: Das Radio Berlin feiert heute seine vorerst letzte schöne Party

„Wir verkaufen unsereArbeiten möglichst billig. Anden Spielen des Kunstmarktes,der für eine Elite funktioniert,sind wir nicht interessiert.“

Früher war in dem Ladenlokal auf der Veteranenstraße eine Stasi-Schneiderei. Da nähte man Jeans für die Agenten. So konnten die unerkannt operieren, im Anzug des Klassenfeindes, konnten den Westen mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Das Zonen-Outfit überließ man den Daheimgebliebenen. Die mussten ja nicht „raus“, riskierten nichts, wenn sie sich durch ihre Hässlichkeit selbst denunzierten.

Patrick Zollinger hat das gehört, nur so, unter der Hand, von der „Wohnungsbaugesellschaft Mitte“. Die WBM verwaltet das Haus mit dem Ladenlokal, in dem Zollinger sein „Radio Berlin“ drei Jahre lang.betrieben hat. Jetzt muss er raus. Das Haus in der Veteranenstraße 22 wird modernisiert und „Radio Berlin“ hat Sendepause. Deprimiert ist Zollinger deswegen nicht. „Es ist erstaunlich, dass wir uns überhaupt so lange halten konnten, ohne Sponsoring oder staatliche Fördermittel. Wir haben uns vom Verkauf der Bilder finanziert.“

Dreihundert Mark Fixkosten mussten pro Woche aufgebracht werden, hundert Mark kostete ein Bild. „Das war nie sicher, hat aber immer irgendwie funktioniert.“ Zollinger sieht „Radio Berlin“ als alternativen Kunstraum für Partiy und Happenings, für Bildende Kunst und Musik. Nach dem Prinzip des Sendens und Empfangens arbeitet der Ort als ideeller, kreativer Umschlagplatz.

Zollinger ist zwar der Macher von „Radio Berlin“, der Laden ist sein Baby, „aber ohne die anderen geht gar nichts. Wir sind ein offener Kreis von insgesamt hundert Künstlern aus der Berliner Off-Kultur. Leute wie Jim Avignon, DAG oder die Honeysuckle Company gehören dazu, die haben hier regelmäßig Aktionen gemacht. Viele Freunde kommen aus der Clubkultur, machen Party-Installationen wie die Leute von Alien TV oder vom ‚Eimer‘.“

Das Zusammentreffen und Aneinanderteilhaben stehe im Vordergrund, nicht die eitle Präsentation von Kunst. „Wir machen so eine Art Quasi-Galerie. Wir verkaufen unsere Arbeiten möglichst billig, zu Atelierpreisen. An den Spielen des Kunstmarktes, der für eine Elite funktioniert, sind wir nicht interessiert.“

Bilder an die Wände zu hängen sei wichtig, Platten auflegen und Drinks mixen zu lassen ebenso; am wichtigsten jedoch sei der Austausch. Das ist nicht neu, aber erfolgreich. „Wir konnten in drei Jahren einhundertfünfzig Künstler zeigen, meistens in Zwei-Personen-Ausstellungen. Die funktionierten für eine Nacht, als Happening, und konnten dann am nächsten Tag beim Frühstück noch mal in Ruhe angeguckt und gekauft werden. Kürzlich machte Jim Avignon eine Ausnahme, und ließ seine Picassos drei Tage hängen. Wir konnten siebzehn von fünfundzwanzig Arbeiten verkaufen.“

Wahrscheinlich lag das an der „Kubistischen Phase“, die Avignon, der in einschlägigen Kreisen „Picasso on Acid“ geheißen wird, just durchlaufen hatte. Die dauerte drei Wochen. Während dieser Zeit malte Avignon seine Lieblingsmotive von Picasso nach. Manchmal legt er auch auf im „Radio Berlin“ oder macht „Sessions“, an deren Ende „wir ihn davon abhalten mussten, weiterzusingen.“

Für das nächste halbe Jahr ist nun erst mal Schluss. „Wir sind an einem bestimmten Punkt angekommen. Jetzt geht es darum, auf das nächste Level zu kommen. ‚Radio Berlin‘ wird im Sommer an wechselnden Orten mit Happenings zu Gast sein, vielleicht zwei oder drei Mal.“

Gesendet wird nicht vor Herbst, vielleicht auch erst 2002, vielleicht an einem anderen Ort. Weitergemacht wird, so viel steht fest. Der Quantensprung steht ja im Programm. JANA SITTNICK

Heute feiert „Radio Berlin“ die letzte Party, mit drei DJs und zehn Ausstellungen, Veteranenstraße 22, Mitte, ab 22 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen