: Die Hatz der häßlichen Hunde
Wenn im Stadion Walthamstow die Windhunde dem Kunststoffhasen hinterherrasen, ist das keine Domäne alter Männer mehr. Die Rennen sind populär ■ Aus London Ralf Sotscheck
Plötzlich kommt Bewegung in die Meute. Das Vorderteil der Käfige ist hochgeschnellt, und die Hunde hetzen mit einem Affenzahn hinter dem Hasen her. Doch der zieht uneinholbar vor ihnen auf der Sandbahn seine Runde – er ist aus Kunststoff und läuft auf einer elektrischen Schiene. Das scheint den Hunden egal zu sein. Möglicherweise wird der falsche Hase vor dem Rennen mit Karnickelparfum eingerieben?
Jedenfalls laufen die sechs Windhunde, als ob es um das Mittagessen ginge. In der ersten Kurve führt das Tier im blauen Leibchen, doch dann wird er vom Schwarzgekleideten überholt. In der Zielgerade schießt auf einmal der Gestreifte außen am Rudel vorbei und holt eine halbe Länge Vorsprung heraus.
Nach 460 Metern ist es vorbei, das Rennen hat keine dreißig Sekunden gedauert. Die Hunde merken das erst, als der Hasenwart einen schweren Kasten über das Kunststofftier stülpt. Zum Trost wirft er ihnen einen braunen Stoffhasen vor, der schon reichlich mitgenommen aussieht: Die Ohren sind abgebissen, die Pfoten mit weißen Klebestreifen bandagiert. Die Hunde zerren am Spielzeughasen, bis sie ihn wieder hergeben müssen, weil das nächste Rennen gleich beginnt.
Sophie zerreißt ihren Wettschein. Sie erörtert mit ihren Freunden die Chancen für den nächsten Lauf. Meist setzt sie auf das Tier in Rot, denn Rot ist ihre Lieblingsfarbe. Frank prüft dagegen im Programmheft, wie die Hunde bei den letzten Rennen abgeschnitten haben. Catherine wettet immer auf den Favoriten. Und Tim hat einen Würfel dabei und setzt auf die Startnummer, die er geworfen hat. Keine der Methoden ist zuverlässig, Greyhounds – nach Geparden sind sie die schnellsten Landtiere und bringen es auf 60 Stundenkilometer – sind unberechenbar.
„Gewinnen ist nicht alles“, meint Sophie, „Hauptsache, es macht Spaß. Besser als im Pub ist es allemal, und Bier gibt's auch.“ Hunderennen sind nicht mehr länger eine Domäne alter Männer mit Schiebermützen, Walthamstow ist zum Mekka für jüngere Spielernaturen geworden. Schon von weitem leuchtet einem der grimmig dreinblickende Greyhound hoch oben an der Fassade des Stadions entgegen. Es ist der einzige Farbfleck im tristen Nordosten Londons mit seinen kleinen Reihenhäuschen, Großparkplätzen und billigen Ladenzeilen. Das wuchtige Stadion ist die bedeutendste Hunderennbahn Europas.
Windhunde sind keine schöne Rasse. Die adlige Dichterin Juliana Berners beschrieb 1486 in ihrem „Buch von St. Alban“ den Idealhund: „Von der Schlange die Wachsamkeit, vom Enterich den Hals, wie ein Holzstock der Rücken, vom Brassen die Flanke, von der Katze die Pfote, von der Ratte den Schwanz.“ Und so sehen sie auch aus.
Vermutlich haben sich selbst Päpste inkognito zum Hunderennen geschlichen. Im Vatikan steht jedenfalls die Marmorstatue eines Windhundes. In Großbritannien laufen die Tiere seit 1926 um die Wette. Das erste Rennen fand in Manchester statt, Walthamstow öffnete sechs Jahre später. Der Geschäftsmann William Chandler, der das gut fünf Hektar große Grundstück erworben hatte, heuerte die berühmtesten Architekten Großbritanniens an. Die Investition zahlte sich schnell aus, in den vierziger Jahren erlebten die Hunderennbahnen ihre Blütezeit. Zu großen Rennen kamen manchmal 100.000 Menschen.
Dann kam das Fernsehen, die Zuschauerzahlen gingen zurück. Der Chandler-Clan, dem das Stadion immer noch gehört, mußte sich etwas einfallen lassen. Man setzte auf Komfort und ein breites Unterhaltungsangebot. Die Tribünen wurden mit Schalensitzen bestückt und verglast, es gibt drei Restaurants und einen US-Schnellimbiß, wo man die Rennen auf dem Bildschirm verfolgen kann – mit Wiederholung in Zeitlupe, weil es ja so schnell geht. Für Jugendliche stehen Spielautomaten bereit, für die ganz Kleinen hat man in der Kurve einen Spielplatz mit Schaukel, Wippe und Klettergerüst angelegt. Nur noch die Fassade ist von 1932.
Aber Flipperautomaten und Roastbeef sind Nebensache, wenn die Hunde zu den Startkäfigen gebracht werden. Dann stehen die Buchmacher im Brennpunkt – nicht mehr ganz junge Männer, die aussehen, als hätten sie nie etwas anderes getan, als mit wildfremden Menschen zu wetten. Sie haben am Rand der Rennbahn ihre Schiefertafeln aufgestellt. Vor jedem Rennen malen sie links in kunstvoller Schrift die Hundenamen auf, rechts kommen die Quoten hin. Die „Bookies“ haben stets einen Lappen in der Hand, mit dem sie die Quoten blitzschnell abwischen können, falls es die Wettlage erfordert. Sie unterhalten sich dabei in einer Art Zeichensprache, die nur Buchmacher verstehen.
Der Kunde bekommt eine bunte Karte mit einer Nummer. Ein Gehilfe, meist der Sohn, notiert die Wette in einem großen Buch. So wird der Buchmachernachwuchs von klein auf ausgebildet. Das Kleingeld kommt in einen braunen Beutel mit Schnappverschluß, die Scheine stopft sich der „Bookie“ in die Hosentasche. Wenn ein Kunde sein Geldbündel hinüberschiebt und seine Wette flüsternd plaziert, um die Quoten nicht zu verderben, wähnt man sich in einem Mafiafilm. Doch es geht alles mit rechten Dingen zu. Sechs Milliarden Mark nehmen die Buchmacher jedes Jahr beim Hunderennen ein.
Es gibt 39 Rennbahnen in Großbritannien, vor 50 Jahren waren es noch 250. Zwar ziehen die Windhunde in Großbritannien nach den Fußballern mehr Zuschauer an als alle anderen Sportler, doch für viele Stadien reichte das nicht. Immerhin leben aber noch 10.000 Menschen von dem Geschäft mit den schnellen Tieren, die Buchmacher nicht mitgerechnet. Nur für die Eigentümer ist es ein Zuschußgeschäft.
Windhundbesitzer sind Verrückte. Ein guter Hund, einer mit langem Stammbaum, kostet bis zu 75.000 Mark. Das sind allerdings Ausnahmen, die meisten sind billiger zu haben. Doch Monat für Monat müssen Hunderte von Mark für Unterbringung und Training aufgebracht werden. Ab 15 Monaten können Greyhounds an Rennen teilnehmen, mit Dreieinhalb gehen sie in Rente. In der Zeit dazwischen holen nur die wenigsten die Kosten wieder herein. Das Preisgeld ist gering, bei größeren Rennen gibt es vielleicht dreihundert Mark. Nur beim Derby geht es um 150.000 Mark, aber die kann eben nur einer gewinnen. 1968 war es Prinz Philip, der Gemahl der Königin, mit seinem Hund Camira Flash.
Sam kann von solchen Summen nur träumen. Er ist Monteur, steht kurz vor der Pensionierung. Zu den Hunden geht er seit 50 Jahren. Das Stadion von Walthamstow mag sich verändert haben, Sams Gewohnheiten nicht. Er steht bei Wind und Wetter an der Startgerade, in der Hand das Rennprogramm und einen Stift, mit dem er den Einlauf notiert – „als Gedächtnisstütze für's nächste Mal“. Die Restaurants über der Tribüne interessieren ihn nicht. Er sei wegen der Hunde hier, sagt er, essen könne er auch zu Hause.
„Finger weg von Schnaps und Pferden, hat mir mein Vater eingebleut“, sagt er. „Beides macht dich arm. Bei Pferden kann man schummeln. Der Trainer kann dem Jockey sagen, er soll sich nicht allzusehr anstrengen. Ein Hund hat keinen Jockey auf dem Rücken, und wenn das Rennen losgeht, sieht er nur noch den Hasen.“
Betrügen kann man aber doch. Manch Besitzer soll seinem Hund vor dem Rennen Limonade gegeben haben oder zuviel Fleisch, damit er nicht so schnell laufen konnte. Beim nächsten Rennen war er dann Außenseiter, aber in bester Verfassung, so daß der Besitzer ein hübsches Sümmchen am Wettschalter verdienen konnte. Die Schummelei brachte den Rennsport in Verruf. Heutzutage wird alles ganz genau geprüft, jeder Hund muß zur Dopingkontrolle. Der Hund bekommt, was auch das britische Herrchen ißt: Müsli und Eier, Milch und Honig, Beef und Cabbage, manchmal mit Zwiebeln und Vitamintabletten. Nur am Renntag gibt es nichts: „Hunger verleiht Flügel“, sagt Sam.
Mißtrauische Gemüter glauben, daß man durch die Geschwindigkeit des Hasen das Rennen beeinflussen kann. Der Mann, der das Kunststofflangohr steuert, will deshalb anonym bleiben. „Sonst versucht man womöglich, mich zu bestechen“, sagt er. Und das wäre bei seinem Lohn wohl allzu verführerisch. Früher wurde die Hasenattrappe von einem Angestellten per Fahrrad angetrieben. Das war nicht sehr zuverlässig, weil der Hase manchmal entgleiste und auch dem dümmsten Windhund klar wurde, daß er hereingelegt worden war.
Sophie begutachtet die Hunde, die vor dem Rennen an der Leine um die Bahn geführt werden. „Man muß darauf achten, ob der Hund hellwach ist“, glaubt sie. „Wenn er gähnt, kannst du ihn vergessen.“ Das Gähnen dürfte ihnen aber wegen der Maulkörbe schwerfallen. Das Pinkeln freilich nicht: Sophies Greyhound im roten Trikot hebt am Flutlichtmast respektlos das Bein. Sophie ist entsetzt: „Er ist nervös“, diagnostiziert sie und setzt ihre fünfzig Pence lieber auf den Gestreiften mit der Nummer sechs: Jackalika. Beim staatlichen Totalisator beträgt der Mindesteinsatz nur zehn Pence, bei den privaten Buchmachern muß man meist fünf Pfund anlegen.
Als Jackalika vorbeigeführt wird, redet Sophie über die Absperrung beschwörend auf ihn ein. In der Mitte des Stadions leuchtet eine Zahl, die über die verbleibende Wettzeit Auskunft gibt: noch eine Minute. Die Hunde werden nun in die Startbox gesteckt. Manche gehen freiwillig hinein, bei anderen muß man nachhelfen.
Aus den Holzkästen dringt ein erbärmliches Winseln. Der Starter ist ein Gentleman: schwarze Stiefel bis zum Knie, braune Reithose, schwarze Smokingjacke, auf dem Kopf einen Bowler-Hut. Als er die Fahne schwenkt, ertönt eine Klingel. Das Licht auf der Tribüne geht aus, fast andächtige Stille macht sich breit. Über dem Stadion hängt das Wettfieber. Dann wird der Hase losgelassen, die Klappen der Startboxen schnellen hoch.
Jetzt ist der Teufel los. Jeder feuert seinen Hund an, manche schwenken die bunten Wettscheine über dem Kopf, andere haben die Hände wie zum Gebet gefaltet. „Schneller, du Bastard“, brüllt ein korrekt gekleideter Herr, der offenbar auf den Hund im weißen Leibchen gesetzt hat. Der ist um 30 Meter abgeschlagen, er muß sich beim Start irgendwie im Käfig verheddert haben. Das holt er nicht mehr auf, er läuft aber unverdrossen weiter und ergattert am Ende sogar den Troststoffhasen. Der Herr, der offenbar eine größere Summe auf den Versager gesetzt hatte, verwünscht ihn in die Wurstfabrik.
Wer gewonnen hat, ist noch unklar. Sophie muß auf das Fotofinish warten, so knapp ist das Rennen ausgegangen. Dann kommt die Ansage: Jackalika lag um eine Nasenlänge vorne. Während ihr Hund auf das Podest zur Siegerehrung gehoben wird, ruft Sophie: „Champagner!“
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