Die Griechen und die Krise: Athen, da geht noch was
Junge Griechen in der Hauptstadt stemmen sich gegen die Dauerkrise. Weil sie nichts mehr machen müssen, machen sie was sie wollen.
ATHEN taz | Keine zwei Motorroller kommen in der engen Athener Seitengasse aneinander vorbei. Nicht mal, wenn Griechen sie steuern. Bis vor Kurzem jedoch war es hier so dunkel, stank es so nach Pisse, dass ohnehin niemand, auch kein streunender Hund, die Gasse freiwillig durchquerte.
Jetzt steht Maria Petinakis dort an der Ecke und wartet mit ihrer Stadtführung, bis alle da sind. Dann erzählt sie von der Verwandlung der Gasse. Die Zuhörer halten ihre Handys vors Gesicht und fotografieren den Spalt zwischen den schmalen Häusern. Es werden schöne Fotos: kein Müll auf dem Boden, die Wände frisch getüncht, links und rechts hängen Bilder, manche in barocken Rahmen. Und alle paar Meter ragt eine Lampe in die Gasse, eine die nachts wirklich brennt.
Die Athener haben also eine Straße aufgehübscht – das klingt nach einer homöopathischen Dosis Hoffnung, die nichts bringt. Nicht in Athen, einer Stadt in der Depression, wo politisches Chaos herrscht, wo so viele arbeitslos sind, wo die Innenstadt verslumt.
Aber diese eine Gasse ist eins von vielen kleinen Projekten, mit denen sich die Athener gegen die Dauerkrise stemmen. Vor allem die Jungen erobern sich so ihre Stadt zurück. Die Bilder, die sie an die Wände in der Gasse nagelten, könnten auch in ihren Wohnzimmern hängen. Was sie damit sagen wollen: Wir sind hier zu Hause.
Kann die EU ein Zuhause sein? Ja, finden Silvia Koch-Mehrin und Ursula von der Leyen. Für wen Brüssel ein Sehnsuchtsort ist und wie junge Griechen in einer verslumten Gasse ihre Zuversicht wiederfinden, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. April 2014. Außerdem: Die letzte Fotoreportage von Anja Niedringhaus. Sie wurde bei ihrer Arbeit in Afghanistan erschossen. Und: Warum viele Palästinenser bei einem Filmprojekt über Jerusalem nicht mitmachen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Maria Petinakis ist 34, eine Frau in Stiefeln und engen Jeans, überm rechten Ohr hat sie die roten Locken wegrasiert. Sie organisiert diese Stadtführungen durch Viertel, die Fremde spätestens seit der Krise meiden. Heute ist sie mit Leuten der niederländischen Botschaft unterwegs. „Endlich mal gute Neuigkeiten“, sagt eine Diplomatin, „so etwas haben wir wirklich gebraucht.“ Sie hätten schon von der jungen Kunstszene Athens gehört, und sich gefragt, wo die sei.
Freilichtmuseum Athen
Dabei ist Kunst im Stadtzentrum unübersehbar. Sie ist auf Wände gemalt, auf Zäune, auf Züge. Legal, illegal. Fast jede Metro raus nach Piräus ist voller Graffiti. Es gibt Ecken, da sieht Athen aus wie ein Freiluftmuseum. Über die Häuser sind Bordüren und Sprüche gesprüht, bunt und politisch, „Anarchie“, „Revolution“, solche Worte. Im Sommer 2011, als riesige Proteste die Stadt lahmlegten, habe es sich wirklich wie Revolution angefühlt, sagen viele. In der Straßenkunst ist diese Stimmung festgehalten: „Welcome to Athens“ steht an der Fassade neben einer Bar, an der Petinakis mit ihrer Gruppe vorbeikommt. Die Buchstaben scheinen zu brennen, daneben ist ein Vermummter gemalt, der einen Molotowcocktail wirft.
Seit fünf Jahren schrumpft die griechische Wirtschaft. Erst für dieses Jahr wird mit einem winzigen Wachstum gerechnet. 0,6 Prozent – sofern die Optimisten recht behalten. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 27 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit sogar bei 60 Prozent. Das ist der schlechteste Wert in der gesamten EU. Dazu kommt, dass das Leben teurer geworden ist, die Mehrwertsteuer wurde von 19 auf 23 Prozent angehoben, immer wieder fallen Sondersteuern an.
Eigentlich ist Maria Petinakis Architektin, nur gibt es in der Krise nichts zu planen. Öffentliches Geld fließt in den Schuldenabbau, privates Geld außer Landes. Ein paar hundert Euro im Monat verdient sie noch in ihrem Architekturbüro – zu wenig. Also gründete sie zusammen mit Bekannten eine Agentur, die thematische Stadtführungen anbietet. Mal geht es um soziale Bewegungen, mal um Street Art, mal um Bars und Tavernen in Athen.
Stadt der Geister
Maria Petinakis und ihr Freund Dimitris Theorodopoulos wohnen in einem 60er-Jahre-Bau mitten in der City. Im Innern ihres Häuserblocks ist ein Fleischmarkt, sie hört die Händler bis in ihrer Küche rufen. Und von ihrer Dachterrasse sieht man in die oberen Stockwerke des kantigen Neubaus gegenüber, früher eine Bank. Eines Tages trugen die Banker Pappkartons auf die Straße und kamen nicht mehr zurück. „Das Neonlicht brannte trotzdem wochenlang weiter“, sagt Theorodopoulos, „als arbeiteten Geister dort.“
Er erinnert sich noch gut an den Augenblick, als er begriff, dass etwas schief lief. Er war gerade bei der Armee, stationiert in einer Kaserne irgendwo auf dem Land. Jeden Tag brachte ein Lieferant das Essen für die Soldaten, und eine Zeitung. Damals las er das erste Mal von der Investmentbank Lehman Brothers in den USA, von deren Bankrott. In den Zeitungen stand, Griechenland sei nicht von der Krise betroffen. Seine Kameraden guckten Fußball.
Dimitris Theorodopoulos ist 34, ein Typ mit Kapuzenpullover und Bart. Auch er ist Architekt, auch bei ihm läuft es nicht. Was er jetzt macht, macht er unbezahlt: Theorodopoulos entwirft Bühnenbilder fürs Tanztheater. Das Geld sei knapp, „aber ich habe Gott nie um Geld gebeten“, sagt er. Logisch, dass die Sozialversicherung das anders sieht, Theorodopoulos konnte eineinhalb Jahre nichts einzahlen, 5.000 Euro sind noch offen, die stottert er jetzt ab. Hauptsache, sagt er, der Staat pfände sein Auto nicht, den kleinen, blauen, eingestaubten Ford, der ein paar Straßen weiter geparkt ist.
Was Theorodopoulos wirklich nervt, ist, dass er kein Geld mehr hat, um zu reisen. Seit dem Ausbruch der Krise verlässt er Griechenland nicht mehr als Tourist, aber immerhin noch als Bühnenbildner, wenn das Tanztheater irgendwo eingeladen ist. So kam er in den letzten Jahren doch nach New York, Edinburgh und Moskau.
Neuer Unternehmergeist
Die Krise, in der so viele ihren Job verloren, ist für manche eine Chance. Für die Jungen, die Kreativen, die Städter. Jetzt, da sie nichts mehr machen müssen, tun sie das, was sie immer machen wollten. Maria Petinakis kennt viele dieser Geschichten: „Die Leute eröffnen Bars oder Läden oder machen Kunst.“ Hier und da hat sich der Spirit der Bürgerversammlungen, die in den schlimmsten Wochen der Krise jeden Tag stattfanden, in Unternehmergeist verwandelt.
Auf einer ihrer Stadtführungen stellt sie Designer und ihre Produkte vor, sie führt durch die leicht abfallende Veikoustraße östlich der Akropolis, wo unter Bogengängen Laden an Laden liegt. Winzige Schneidereien mit ausgeblichenen Schildern, in denen alte Frauen tief über ihre Arbeit gebeugt sitzen, wechseln mit modernen Designershops ab.
Einer dieser neuen Läden heißt Fabrika, Evrydiki Tsistraki hat ihn vor zwei Jahren eröffnet. Seitdem verkauft sie selbstgemachten Schmuck aus verbogenem Metall, Broschen aus Keramik und bunte Filztaschen. Sie hat es einfach gemacht – ohne detaillierten Businessplan. Ob es ihren Laden in ein paar Jahren noch geben wird, weiß sie nicht. Tsistraki ist 35 und hat gerade ihr erstes Kind geboren. Sie hat was riskiert. „Aber“, sagt sie, „das größere Risiko wäre, nicht getan zu haben, was ich wollte.“
Wie sie denken viele. Es ist der Krisenzeitgeist: Do it yourself. Ihr Schmuck ist teurer als die Massenware, trotzdem gibt es gerade jetzt Leute, die lieber vom Nachbarn kaufen als vom gesichtslosen Global Player.
Maria Petinakis führt die Niederländer nun auf einen sandigen Platz, der eingefasst ist von bemalten Brandmauern. Bis 2009 parkten hier Autos, jetzt ist es ein Garten. Studenten und Aktivisten setzten bunte Mosaike in den Boden, legten Beete an, pflanzten ein paar Palmen, ein paar Büsche. „Jeden Mittwoch kommen sie, um den Garten zu pflegen“, sagt Petinakis. Dann gibt sie jedem, der bei ihrer Stadtführung dabei ist, einen Zettel, auf dem griechische Graswurzelprojekte stehen: Leute, die für Obdachlose Essen kochen, sich für Flüchtlinge einsetzen oder Lobbyarbeit fürs Fahrradfahren machen. Die Liste ist lang, die Schrift winzig.
Aber Petinakis verteilt nicht nur Flyer, sie macht auch mit. Ständig fährt sie mit ihrer schweren gelben BMW-Maschine durch Athen – im Stakkato Gas gebend, bremsend, hupend – um etwas zu organisieren. Das Wochenende über hat sie mit ein paar Bekannten Möbel aus Holzpaletten gezimmert, um eine tote Straßenecke in Metaxourgio zu einem Ort zu machen, an dem man sich setzen möchte, anstatt seinen Müll abzuladen.
Gestoppte Gentrifizierung
Metaxourgio ist ein Bezirk im Westen der Innenstadt, der mitten in der Gentrifizierung steckte, als die Krise den Trend stoppte. Jetzt müssen die, die hier wohnen, selbst für den Aufschwung sorgen. Als Maria Petinakis – unter dem Arm ein Verlängerungskabel – im Café gegenüber fragt, ob sie Strom für die Stichsäge haben kann, winkt der Besitzer sie herein.
Einen Tag zuvor hat Petinakis das Colour Festival, das ein paar Straßen weiter stattfand, mitorganisiert. Auf einem Platz vor einer Bauruine trommelte eine Sambaband und weil es das Colour Festival war, bewarfen sich die Leute mit Farbpuder, das Münder und Wimpern verklebte.
Es war längst dunkel, als Maria Petinakis und Dimitris Theorodopoulos nach Hause gingen – sie mit rostrotem Gesicht, er mit blauem Bart. Auf dem Heimweg kamen sie an jungen Leuten vorbei, die in einer Seitenstraße Sirtaki tanzten, immer im Kreis, die Hände auf den Schultern der Nachbarn. Die Musik ist fröhlich, und traurig zugleich. Umstehende lehnen rauchend an kurzen Motorhauben oder trinken Raki aus Plastikbechern, die sie sich aus der Bar nebenan holen. „Mal ehrlich“, sagt Dimitris Theorodopoulo, „du kannst doch nicht die ganze Zeit über die Krise nachdenken.“ Er reiht sich ein, dreht sich mit den anderen in die Nacht hinein. Mitten in Athen, in einer schlecht ausgeleuchteten Gasse.
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