Die Geschichte einer "Bild"-Schlagzeile: AIDS doch nicht heilbar
Sensation! Ein Berliner AIDS-Patient soll "geheilt" worden sein! Die Wahrheit ist leider etwas komplizierter, wie der behandelnde Arzt des betroffenen Patienten erklärt.
So eilig pflegt man in der Öffentlichkeitsabteilung der Berliner Charité keine Pressekonferenz einzuberufen - aber die Titelseite der Bild-Zeitung vom Mittwoch machte dies offenkundig nötig. Dort stand nämlich zu lesen: "Sensation! Berliner Arzt heilt Aids-Kranken" - und der Mediziner, dem diese Tat attestiert wird, Gero Hüttner, zählt mit zum Stab des hauptstädtischen Renommierklinikums, ein Facharzt für Hämatologie und Onkologie, ein Spezialist auf dem Gebiet des Blutes und seiner Erkrankungen.
Geschildert wird von dem Blatt, was das Wall Street Journal in der vorigen Woche in einem Wissenschaftsreport dargelegt hatte: ein 42-jähriger US-amerikanischer Patient, der in Berlin lebt, ist an Leukämie erkrankt. Obendrein hatte er sich - wann, ist ungewiss - mit dem HI-Virus infiziert. Für eine Therapie gegen den Blutkrebs suchte das Universitätsteam um Gero Hütter, Spender für eine Knochenmarkstransplantation, um die Leukämie zu bannen.
Zugleich aber wurde hauptsächlich nach einer Knochenmarkspende gefahndet, die zugleich eine Besonderheit in den Zellen aufweisen solle: eine spezifische Mutation namens CCR5. Diese Chiffre ist der Name eines Rezeptors, mit dem die die Immunschwächekrankheit Aids auslösende HI-Infektion erst in gesunde Zellen sich einschleusen und sie dann lahmlegen kann.
Die Mutation aber, die nach Schätzung von Experten wie Keikawus Arasteh, Aidsforscher am Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin, etwa ein bis zehn Prozent der Bevölkerung verfügen, verhindert nach aktuellem Forschungsstand die Einschleusung des HI-Virus in einen Zellkörper. In Gegenden der südlichen Sahara wie in Nordeuropa ist der Anteil der Menschen mit diesem begünstigendem Defekt besonders hoch - erst so konnte in den vergangenen Jahren erklärlich werden, warum bestimmte Frauen und Männer sich trotz kondomlosem Sexes nicht mit dem HI-Virus angesteckt haben.
Tatsächlich wurde über die europäische Zentrale für Transplantationsmedizin im niederländischen Leiden ein Spender mit dem passenden Knochenmark, aber auch mit diesem spezifischen CCR5-Defekt gefunden. Nach der Transplantation des Knochenmarks (Bild-Zeitung: "600 Tage kein HIV mehr") konnte beim Patienten keine der immunschwächenden Viren mehr gefunden werden.
Der Clou der Aktion aber, so kritisiert Andreas Kirsch, der in eigener onkologischer Praxis im Berliner Universitätsviertel von Dahlem behandelnde Arzt des Patienten, sei nicht, dass mit dieser Transplantation eine "Heilung von Aids möglich" werde. Eine die Infektion auslöschende Kur sei nicht zu konstatieren. Möglicherweise seien maligne Zellen irgendwo im Patientenkörper übrig geblieben - eine Prognose, so Kirsch, sei nur um den Preis der wissenschaftlichen Unredlichkeit abzugeben.
Aber, so Kirsch, diese Transplantation hat sich sehr wohl gelohnt, aber nicht im Hinblick auf ein Aids-Heilungsversprechen: "Jetzt lässt sich das Verdikt, HIV-Infizierte nicht die Möglichkeit für Transplantationen" - Niere, Leber, Herz, Knochenmark - "zu geben, nicht mehr aufrecht erhalten." Und das sei das ein schöner Gewinn an Humanität: HIV-Infizierte, die mit Hilfe von Medikamenten ohnehin anders als vor 25 Jahren nicht mehr einem schnellen Tod geweiht sind, müssen nicht mehr deshalb auf Ersatzorgane verzichten, weil eine Operation ihr ohnehin fragiles Immunsystem ruinieren könnte.
Wie es dem Boulevardblatt gelingen konnte, aus einer medizinischen Handlungserweiterung die "Sensation" einer Heilung abzuleiten, mag Onkologe Andreas Kirsch nicht sagen. Sein Kollege Hütter hatte auf einem Aidskongress "HIV im Dialog" im September von diesem Fall berichtet und das HI-Virus in jenem transplantierten Körper für verschwunden erklärt. "Ich würde das nie sagen. Bei bestimmten Krankheiten, etwa Krebs, können wir, selbst wenn unsere medizinischen Kuren wirken, nie prophezeien, dass etwas verschwunden ist." Medizinisch vorsichtig könne stets nur die Rede davon sein, dass man etwas Bestimmtes nicht mehr nachweisen könne.
Aber, soviel darf aus fast 30-jähriger Aidsforschung geschlussfolgert werden: Klappern gehört zum Handwerk. Und wer in Sachen Aids Heilung verspricht, katapultiert sich fast automatisch, ausgerüstet obendrein mit nobler Arbeitsadresse wie die der Charité, in den Kreis von Adressaten, denen seitens des medizinisch-industriellen Komplexes Gelder zufließen.
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