Die Folgen von Fukushima: Déjà-vu des Super-GAUs
Die Atomkatastrophe mobilisiert in Deutschland Tschernobyl-Ängste – statt Mitgefühl mit der japanischen Bevölkerung. Die bange Frage in Asien lautet: Wohin weht der Wind?
Das erste Statement von Umweltminister Norbert Röttgen (CDU), das im Fernsehen gesendet wurde, war eine Beruhigungspille für die Deutschen. Japan sei weit entfernt, verriet Röttgen, es bestehe hierzulande keine Gefahr. Auch in den vielen Interviews mit eilig mobilisierten Experten wurde immer wieder gefragt, ob die Strahlenwolke von Fukushima uns in Europa heimsuchen könne.
Während vor Ort Atomwerker, Sicherheitsbehörden und Katastrophenhelfer verzweifelt gegen das nukleare Inferno kämpfen, scheint die Unversehrtheit der heimischen Scholle für manche das wichtigste Thema zu sein. Es verrät einen erstaunlichen Mangel an Empathie und Menschlichkeit, jetzt nicht zu fragen, ob weite Teile Japans unbewohnbar werden und ob es gelingt, das Herausschleudern des verheerenden radioaktiven Inventars aus den Reaktorruinen zu verhindern, sondern danach, ob in Castrop-Rauxel womöglich das Risiko steigt.
Deutschland, da hat Röttgen recht, ist viele tausend Kilometer von dem Unglücksort entfernt. Der Großraum Tokio mit seinen 35 Millionen Einwohnern liegt dagegen gerade mal gut 200 Kilometer südöstlich von Fukushima. An eine Evakuierung ist nicht zu denken. Tokio ist, wie viele andere japanische Städte, direkt bedroht – nicht die norddeutsche Tiefebene.
Vermutlich sind es die Erinnerungen an Tschernobyl, die uns in die Quere kommen, wo sich doch – ein Déjà-vu des Super-GAUs – die Reaktorkatastrophe in Japan fast punktgenau 25 Jahre nach der von Tschernobyl ereignet. Die Jubiläumsartikel zu Tschernobyl sind schon recherchiert, teils auch schon gedruckt, oder sie liegen in den Schubladen. Vor wenigen Tagen erschien in der Mitgliederzeitschrift der Ärzte gegen Atom ein langes Interview mit dem früheren Umweltberater Gorbatschows, Alexej Jablokow. Die Überschrift und zugleich Jablokows Schlusssatz: "Ein zweites Tschernobyl rückt näher!"
Vergleiche mit Tschernobyl sind zwar, was den emotionalen Schock, was Angst und Schrecken angeht, durchaus berechtigt, aber die jetzige Situation ist grundverschieden. Die Informationspolitik in Japan mag beschönigend und verschleiernd sein, doch wer genau hinhört, weiß, was die Stunde geschlagen hat. Dank Internet und Pressefreiheit in der westlichen Gesellschaft läuft diese Katastrophe in Zeitlupe vor unser aller Augen ab. Wir können nicht wegsehen, wir können der Wucht dieser Ereignisse nicht ausweichen.
In Tschernobyl wurden die Informationen hinter dem Eisernen Vorhang versteckt und bewusst so lange zurückgehalten, bis schwedische Messstellen eine erhöhte Radioaktivität festgestellt und Alarm geschlagen hatten.
Chaotischer Nachrichtensalat
In Fukushima erhalten wir dagegen alle verfügbaren Informationen sehr schnell und ungeordnet. Es fehlt an Klarheit. Der chaotische Nachrichtensalat aus Explosionen, Kernschmelzen und Meerwasserkühlung ist angesichts eines ganzen Rudels außer Kontrolle geratener Reaktoren und des hektischen Überlebenskampfs der Atomwerker völlig "normal".
In Japan wissen weder Wissenschaftler noch Politiker, weder Atomaufseher noch Betreiber, was hinter der Betonhülle im stählernen Containment mit dem glühenden Brei des geschmolzenen Reaktorkerns tatsächlich geschieht. Das ist fast noch beunruhigender als die Nachrichtensperre von Tschernobyl – deshalb erinnert Fukushima auch eher an Harrisburg.
Nach der Explosion in Tschernobyl war die radioaktive Wolke über Europa gezogen und hatte viele Gebiete in Ost und West mit dem strahlenden Fallout direkt verseucht. Weißrussland und die Ukraine waren am stärksten betroffen, aber auch Schweden, Finnland, Bayern und Teile Ostdeutschlands. Wir erinnern uns, wie hierzulande der Salat auf den Äckern verfaulte und das Gemüse untergepflügt wurde, wie die Hamsterkäufe zunahmen und wie wir nach der Tagesschau auf die Wettervorhersage starrten, als hinge unser Leben davon ab. Wind von Osten! Regen! Was können wir überhaupt noch essen!
Eine schwangere Freundin ließ sich ihre Lebensmittel monatelang aus dem Ausland zuschicken, aß vor allem Honig aus Kanada und studierte die Becquerel-Listen der Bürgerinitiativen mit verbissener Sorgfalt.
Jetzt sind die Japanerinnen und Japaner, die Indonesier und Malaysier ebenso der Wetterentwicklung ausgeliefert. Aber noch ist unklar, ob sich die Kernschmelze tatsächlich durch den Reaktorkessel fressen wird. Noch weiß niemand, wie viel radioaktive Strahlung diesmal über die Menschheit kommt. Und egal in welcher Richtung dann der Wind weht: Die freigesetzten Radionuklide bleiben auf dieser Welt. Für einige tausend Jahre!
Der Pazifik ist kein Atomklo
Die Hoffnung, der Wind könnte die Wolke aufs Meer und damit aus der Gefahrenzone treiben, ist zwar verständlich und naheliegend, aber auch ein wenig naiv. Auch der Pazifik ist kein Atomklo, in dem die strahlende Fracht für immer verschwinden könnte. Die Strahlung würde dann zwar nicht direkt die Wohngebiete Japans oder Indonesiens verseuchen. Aber über die Nahrungskette kämen Cäsium, Strontium und Plutonium wieder zurück.
Die japanische Fischindustrie, die größte weltweit, hätte einen gewaltigen Schlag zu verdauen. Die Einkaufskörbe der Japanerinnen und Japaner mit ihrem Pro-Kopf-Verbrauch von 70 Kilo Fisch im Jahr (in Deutschland sind es 15 Kilo) wären von heute auf morgen mit Verbotsschildern und Geigerzählern umstellt. In Fukushima wird also nicht allein die Windrichtung das Ausmaß der Verseuchung bestimmen. Entscheidend bleibt die Menge der freigesetzten Radioaktivität. Ausgehend von dieser Strahlenmenge, ließe sich die Zahl der Krebstoten und Strahlenopfer aus statistisch-mathematischen Modellen hochrechnen.
Angesichts der globalisierten Warenströme würden natürlich auch bei uns verstrahlte Flossentiere auf den Tellern liegen. Sushi und Algen würden von der Speisekarte verschwinden. Vom japanischen Grüntee, der längst zum festen Inventar gesundheitsbewussten Lifestyles gehört, gar nicht zu reden. Dass wir in einer Welt leben, dass die Risikotechnologien grenzüberschreitend die gesamte Weltgemeinschaft bedrohen, wird mit den gespenstischen Silhouetten der geborstenen japanischen Reaktoren noch einmal überdeutlich. Deshalb kann es nicht nur darum gehen, die Laufzeitverlängerung für deutsche Atomkraftwerke zurückzunehmen. Es geht um eine weltweite Korrektur der Atomträume, die als Relikt der Atomeuphorie der Fünfziger Jahre bis heute überdauert haben.
Eine großräumige Verteilung der Strahlenfracht, wie sie auch bei den oberirdischen Atomtests in den Fünfziger und Sechziger Jahren zu beobachten war, ist bei einem Atomunfall dieses Ausmaßes unvermeidbar. Insofern hatte die Atomenergie schon immer globale Ausmaße.
Der Zufall wird dann bestimmen, welche Landstriche stärker betroffen sein werden und welche glimpflicher davonkommen. Wir in Deutschland haben die Gnade der Geografie auf unserer Seite. Insofern sollten wir erleichtert sein und unsere kleinkrämerischen Sorgen in ein Mitgefühl für die japanischen Opfer verwandeln. Ein ganzes Land kämpft gegen eine Atomkatastrophe, die selbst Tschernobyl noch in den Schatten stellen könnte.
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