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Die Fehler dürfen sich nicht wiederholen

An dem Satz „2015 darf sich nicht wiederholen“ ist nicht alles falsch. So wie die Corona-Epidemie braucht auch 2015 eine ehrliche Aufarbeitung

Freiwillige Hel­fe­r*in­nen 2015 am Hauptbahnhof München Foto: Wolf Heider-Sawall/laif

Von Wlada Froschgeiser

Als der „Damm“ brach, war ich gerade zwölf Jahre alt. Ich lebte mit meiner Familie in einer mittel­großen deutschen Stadt. Damals, 2015, hörte ich von der „Welle“, die auf uns zusteuere: im Fernsehen, im Radio, in der Schule und nicht zuletzt in meiner eigenen Familie. Erst viel später verstand ich, dass die „Welle“ Menschen waren und der „Damm“ die deutsche Grenze.

Als die aus Syrien, Afghanistan und dem Irak flüchtenden Menschen die Städte und ­Kommunen erreichten, hatte ich den Eindruck, dass der Spruch „Wir schaffen das!“ ziemlich schnell in den Slogan „2015 darf sich nicht wiederholen“ mündete. Kurzzeitig herrschte Willkommenskultur, ehe recht schnell überlegt wurde, wie man die Leute wieder loswerden könne.

Das Bild von der „Welle“ prägte die Gespräche. Unaufhaltsame Menschenmassen, in denen die deutsche Bevölkerung ertrinken könnte. Rechte Diskurse machten die Runde, Geflüchtete wollten gar nicht arbeiten und würden den Deutschen gleichzeitig die Jobs wegnehmen.

Diese diffuse Furcht drang bis zu meiner, selbst migrantischen Familie durch, stets getreu dem Motto: Wir haben uns die Existenz in Deutschland verdient, die anderen sind bloß Eindringlinge – 2015 darf sich nicht wiederholen.

In den folgenden Jahren fand ich mich unter Linken wieder, die ihre Solidarität mit den Geflüchteten und das Gebot der Menschlichkeit hochhielten. Ich bemerkte aber ein Unbehagen. Es lag die Angst in der Luft, den rassistischen Diskurs zu bestätigen, und deshalb traute man sich nicht, politische Entscheidungen im Zusammenhang mit der Aufnahme der Menschen zu kritisieren. Dabei wäre es doch so wichtig, zu diskutieren, was an dem Satz „2015 darf sich nicht wieder­holen“ falsch und was daran aber auch richtig ist.

Das überwältigende ehrenamtliche Engagement beispielsweise war sehr richtig. In meiner Schule entstanden neue Klassen für Geflüchtete, und in meiner Heimatstadt wurden zahlreiche Hilfsvereine von Freiwilligen gegründet, die nach einem langen Arbeitstag Veranstaltungen und Begegnungsräume für Geflüchtete und Ein­woh­ne­r*in­nen organisierten. Noch bevor Geflüchtete Platz in offiziell bereitgestellten Sprachkursen fanden, unterstützten Ehrenamtliche in den Kommunen sie bereits beim Deutschlernen, wie Pro Asyl berichtete.

Der Eindruck, dass überforderte Hel­fe­r*in­nen sich um Ein­wan­de­r*in­nen kümmerten, weil es sonst keiner tat, breitete sich auch in meiner Familie aus. Wie konnte es sein, fragten sie sich, dass ein so fortschrittliches Land an der Unterbringung und Versorgung dieser Menschen scheitert? Sie folgerten daraus, die Welle sei einfach zu groß gewesen. Trotz ihrer eigenen Herkunft gelang es ihnen nicht, Empathie für Mi­gran­t*in­nen aufzubringen. Zu sehr hatten sie sich von der Flut, die vor allem in ihren Köpfen lebte, mitreißen lassen.

Statt ihre Enttäuschung in eine politische Kritik an den Ent­schei­dungs­trä­ge­r*in­nen zu kanalisieren, lehnten sie die Aufnahme von Geflüchteten bald kategorisch ab. Hinter ihrem gescheiterten Versuch, Verantwortliche auszumachen, wird eine wichtige Kritik am Staat deutlich, die es, auch von links, auszuformulieren gilt: Im gesamten Bundesgebiet spielten Einzelne aus der Zivilgesellschaft die Rolle des Staates. Sie sprangen ein, wo Politik versagte, wo Strukturen und hauptamtliches Personal fehlten oder überlastet waren. Auf Hilfe vom Staat warteten sie in den Kommunen oft vergeblich.

Dass die Migration 2015 auf den Schultern von Freiwilligen lastete, darf sich auf keinen Fall wiederholen. Die Wut meiner Familie richtet sich heute weiterhin gegen Geflüchtete, meine eigene gegen das Versagen der Politik. Eine Perspektive, die sich für die Rettung von Geflüchteten einsetzt, darf sich einer Kritik am chaotischen Zustand von 2015 nicht entledigen.

Die Aufarbeitung von 2015 hat ein ähnliches Problem wie die Aufarbeitung der Coronapandemie. In persönlichen Gesprächen erlebte ich damals Linke, die am Sinn einzelner Coronamaßnahmen zweifelten. Aber das offen auszusprechen, traute man sich nicht, aus Angst, als Co­ro­nal­eug­ne­r*in zu gelten.

Die Zurückhaltung bei der Kritik staatlicher Maßnahmen oder staatlichen Versagens lähmt den Diskurs. Eine lautere linke Kritik hätte vielleicht nicht verhindert, dass Verschwörungstheorien Einzug in die bürgerliche Mitte erhalten oder der rassistische Diskurs gegen die Geflüchteten so laut werden kann. Aber nur, wenn politische Fehler eingeräumt und sichtbar gemacht werden, kommt die Debatte voran und kann ein Gegenentwurf zur kompletten Abschottung der Grenzen entstehen.

Wer vor Krieg und humanitären Katastrophen flieht, muss in Deutschland weiterhin Zuflucht finden, hier aber auch auf dafür ausgebaute Strukturen treffen können. Die Fehler von 2015 dürfen sich nicht wiederholen, aber schaffen müssen wir es trotzdem.

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