■ Die Erwartungen vieler türkischen Familien in Deutschland, die Bundesregierung werde Erdbebenopfern aus der Türkei „unbürokratisch und schnell“ die Einreise in die Bundesrepublik ermöglichen, haben sich nicht erfüllt. Die Visumpflicht bleibt bestehen: Deutsche Großzügigkeit mit Auflagen
„Für die Betroffenen ist nichts herausgekommen.“ So lautet die Bilanz des Geschäftsführers des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg, Kenan Kolat. Seine Hoffnungen, die Innenminister des Bundes und der Länder würden für die Opfer des Erdbebens in der Türkei die Visumpflicht für die Einreise in die Bundesrepublik zumindest vorübergehend aufheben, haben sich nicht erfüllt.
Zwar haben sich am Montagabend, eine Woche nach der Katastrophe, die Innenminister darauf geeinigt, die Einreise von türkischen Staatsbürgern aus der Krisenregion zu erleichtern. Die Visumpflicht bleibt jedoch bestehen. Minderjährigen ledigen Kindern unter 16 Jahren sowie Ehegatten von türkischen Staatsangehörigen, die in Deutschland mit Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung lebten, soll demnach „unbürokratisch und schnell“ eine kurzfristige Aufenthaltsgenehmigung erteilt werden. Dazu werde ein auf zunächst 15 Tage befristetes Ausnahmevisum erteilt. Dieses Visum werde von den Ausländerbehörden der Länder dann bis zu einer Gesamtdauer von 90 Tagen verlängert.
Die Bundesregierung wird am Flughafen in Istanbul vorübergehend eine Stelle einrichten, die überprüft, ob die abholenden Familienangehörigen eine Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsbefugnis in Deutschland haben. Gleichzeitig muss das Verwandtschaftsverhältnis glaubhaft nachgewiesen werden, ebenso dass das Familienmitglied, das nach Deutschland möchte, tatsächlich aus dem Erdbebengebiet stammt. Für die Erteilung des Ausnahmevisums wird auf die Verpflichtungserklärung, dass die Einladenden für den Lebensunterhalt der Verwandten aufkommen, grundsätzlich verzichtet. Allerdings kann diese von der Ausländerbehörde am Heimatort eingefordert werden, wenn eine Verlängerung beantragt wird.
Nicht zuletzt wegen dieser bürokratischen Verfahren ist für die Ausländerbeauftragte von Berlin, Barbara John (CDU), die Enttäuschung türkischer Interessenverbände nachvollziehbar. Viele Menschen wollen nur eines: ihren Angehörigen so schnell wie möglich helfen. „Bei vielen“, so Barbara John, gab es höhere Erwartungen, zum Beispiel „dass Spontaneinreisen ohne Hemmnisse möglich sind“. Genährt wurde diese Hoffnung am Wochenende auch von Claus Henning Schapper, Staatssekretär im Bundesinnenministerium, der sich dafür ausgesprochen hatte, dass türkische Kinder ohne Visum nach Deutschland kommen könnten.
Allerdings konnte sich das Bundesinnenministerium nicht gegen die Innenminister der Länder durchsetzen. Diese stehen einer Lockerung ausländerrechtlicher Bestimmungen naturgemäß skeptischer gegenüber. Denn die Kommunen, nicht der Bund, müssten nach der Einreise für den Lebensunterhalt dieser Leute aufkommen. Auch dann, wenn ein in Deutschland lebendes Familienmitglied zwar eine Verpflichtungserklärung abgegeben hat und plötzlich feststellt, dass der Wunsch zu helfen die eigenen finanziellen Mittel übersteigt.
Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck (Grüne), ist über die Entscheidung der Innenminister unglücklich: „Ich bin betrübt, dass dem Wunsch in Deutschland lebender Türken, ihre Verwandten aus der Krisenregion aufzunehmen, nicht entsprochen wurde.“ Für sie ist das Ausmaß der Katastrophe durchaus mit der im Kosovo zu vergleichen (s. Interview).
Das ist sicherlich richtig. Aber bei den Innenministern stand wohl die Angst im Vordergrund, im Zuge der Katastrophe könnte es zu einer unkontrollierten Einwanderung kommen. Sie ist nicht gänzlich unbegründet. Bei Beratungsstellen gehen inzwischen Anfragen von Menschen ein, die nicht aus der Krisenregion stammen, ob es nun eine Möglichkeit gebe, nach Deutschland einzuwandern. Barbara John, inzwischen dienstälteste Ausländerbeauftragte Deutschlands, geht das ganze Problem pragmatisch an: „Mehr wäre wünschenswert gewesen. Nun müssen wir den Behörden mit konkreten Fällen die abstrakte Angst nehmen, es könnte ihnen etwas aus dem Ruder laufen.“ Auf diese Weise, so hofft John, werde es möglich sein, die örtlichen Ausländerbehörden zu überzeugen, Ausnahmegenehmigungen zu erteilen.
Aber wie immer die Praxis der nächsten Monate im einzelnen auch aussehen wird – eines ist heute schon gewiss: Die katastrophalen Folgen des Bebens werden sich nicht durch Auswanderung lösen lassen. Und bei den Verwandten und Betroffenen wird es zwangsläufig Enttäuschung geben.
Eberhard Seidel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen