Die EU und die Arbeit von der Leyens: Alles andere als perfekt
Von der Leyen hat es als EU-Kommissionspräsidentin bisher mit Verständnis versucht. Damit kommt man in Sachen Rechtsstaatlichkeit nicht weiter.
A ls Ursula von der Leyen gerade zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt worden war, gab sie ein bemerkenswertes Interview. „Wir alle müssen lernen, dass volle Rechtsstaatlichkeit immer unser Ziel ist, aber keiner ist perfekt“, sagte sie damals.
Nachdem die EU schon jahrelang Ungarn und Polen für das Aushöhlen der Demokratie und des Rechtsstaates kritisiert hatte, gab Ursula von der Leyen diesen Staaten mit ihrem „Keiner ist perfekt“ ein sprachgewordenes Schulterklopfen mit auf den Weg. Schon rund um ihre Bestätigung im Europaparlament hatte es Zweifel daran gegeben, ob von der Leyen in Brüssel wirklich ausreichend für die Rechtsstaatlichkeit eintreten würde. Immerhin, darauf wiesen vor allem die Grünen im Europäischen Parlament hin, hatte die Deutsche keine eigene, proeuropäische Mehrheit. Ins Amt hievten sie auch die Stimmen der PiS, der Regierungspartei Polens.
Fast ein Jahr später hat Ursula von der Leyen diese Sorge keineswegs entkräften können. Seit etwa 7 Monaten ist sie nun im Amt. Keine ruhigen Monate, sondern eine Zeit, in der die EU mit der Coronapandemie in eine historische Krise schlitterte. Lahmgelegt waren der Flugverkehr, der Tourismus und das normale Leben der meisten EU-Bürger*innen – keineswegs aber der Drang mancher Staatenlenker, sich und ihren Parteien mehr Macht zuzuschachern. Alle Mitgliedsländer schränkten Freiheiten ihrer Bürger*innen ein, um deren Gesundheit zu schützen. Doch Ungarn und Polen holten aus der Krise noch viel mehr raus.
Ungarns Präsident Viktor Orbán war besonders dreist: Er hatte sich Ende März vom Parlament mit umfangreichen Vollmachten ausstatten lassen – natürlich nur, um damit den gesundheitlichen Notfall zu bekämpfen, so die Argumentation. Sein Notstandsgesetz hätte es Orbán allerdings im Zweifelsfall ermöglicht, ohne jegliche zeitliche Befristung auf dem Verordnungsweg zu regieren. EU-Politiker*innen wie Journalist*innen kritisierten den Umstand aufs Heftigste.
Orbán gab die Sondervollmachten dann aber tatsächlich im Juni zurück und stellte sich als Opfer hin: Die Kritiker*innen hätten nun die Gelegenheit, sich „bei Ungarn für unbegründete Anschuldigungen bezüglich des Gesetzes zu entschuldigen“.
Dabei sind die Leidtragenden seines Ermächtigungsgesetzes wieder mal seine Gegner*innen: In der Zeit des Gefahrennotstands waren mehr als hundert Dekrete erlassen worden, nicht alle zum Coronaschutz. Die Corona-kise, so scheint es, ist für Orbán die bequemste Möglichkeit, seine Macht auszuweiten und zu zementieren.
Von der Leyen hatte Ungarn vor der Rücknahme des Ermächtigungsgesetzes mit einem Vertragsverletzungsverfahren gedroht. Die EU-Kommission droht immer mal wieder – Orbán aber macht einfach trotzdem unbeirrt, was er will.
Was hat von der Leyens Wille, auf die Staaten mit bedrohter Rechtsstaatlichkeit zuzugehen, also gebracht? Gar nichts. Die grüne Europapolitikerin Terry Reintke sprach schon in einem Interview von der Kommissionspräsidentin als „Bremsklotz“. Von der Leyen versuche immer wieder, Verständnis aufzubringen und spiele Dinge herunter, statt tätig zu werden.
Die langatmige Diplomatie Brüssels spielt Parteien wie Fidesz und der PiS in die Hände. Während die Kommission noch ganz genau beobachtet und in den Dialog tritt, arbeiten die Regierungsparteien längst weiter am Umbau ihres Staates.
Die Pandemie verschafft dem Rechtsstaat keine Atempause. Auch Polen ließ sich von den Beschränkungen, die so eine Pandemie erfordert, nicht aufhalten: Der öffentliche Wahlkampf vor der Präsidentenwahl wäre wegen der Infektionsgefahr nicht möglich? Die Regierung hätte es nicht gestört – hätte die Regierungspartei PiS zunächst ihren Willen bekommen, hätten die Pol*innen am 10. Mai trotzdem ihre Stimme abgegeben, und zwar in einer reinen Briefwahl. Letztlich ließ die Regierung es bleiben, aber das lag ganz bestimmt nicht daran, dass EU-Justizkommissar Didier Reynders Probleme mit den Wahlen gesehen hätte.
Derweil ist die EU nicht untätig – aber erst dauert es, und dann sind Sanktionen unwahrscheinlich: Gegen beide Länder läuft ein Rechtsstaatsverfahren – gegen Polen seit 2017, das gegen Ungarn wurde 2018 auf den Weg gebracht. Das Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge wird gern als das „schärfste Schwert“ der EU benannt, weil es theoretisch den Entzug der Stimmrechte des Mitgliedslandes nach sich ziehen kann. Praktisch müsste im Europäischen Rat für solche Sanktionen allerdings Einstimmigkeit herrschen. Polen und Ungarn schützen sich hier gegenseitig.
Deshalb ist das schärfste Schwert derzeit der Europäische Gerichtshof. Die EU-Kommission strengt immer wieder Vertragsverletzungsverfahren gegen alle Staaten an, die EU-Recht brechen. Also auch gegen Polen und Ungarn. Beispiele sind der Streit um das ungarische NGO-Gesetz oder der wegen des Gesetzes zur Disziplinierung von Richter*innen in Polen.
Doch Brüssel wird sich in der zweiten Jahreshälfte mit dem Thema verstärkt beschäftigen müssen: Dann dürfte das Ergebnis des Rechtsstaatlichkeitsberichts fällig sein – vor ihrer Wahl hatte von der Leyen angekündigt, ausnahmslos alle Länder jährlich einer Untersuchung zu unterziehen. Das Thema wird auch in die Diskussion um den Wiederaufbauplan reinfunken: Nach einem Kommissionsvorschlag soll die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung der Rechtsstaatsprinzipien gekoppelt sein. Ab dem 1. Juli hat zudem Deutschland die Ratspräsidentschaft inne und unterstützt Brüssel in dieser Hinsicht.
Dieses Momentum sollte Ursula von der Leyen nutzen, denn ihre „Keiner ist perfekt“-Diplomatie reicht angesichts des Treibens in Budapest und Warschau nicht aus.
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