Die CDU-Spendenaffäre und ihre Folgen (12): Die amoralische und selbstgerechte politische Klasse hat die Stabilität des demokratischen Staates gravierend beschädigt: Die Saumagen-Connection
Seit dem Umzug aus dem rheinischen Dorf in die preußische Weltläufigkeit bescheren die Führungseliten jedem politisch interessierten Bürger eine bewegte Diskussion: Sie soll das Wesen, die Physiognomie der Berliner Republik und ihren Unterschied zum Bonner Provisorium ermitteln. Die neue, „vereinigte“ Zeit verlangt eben nach einem neuen, einem frischen Mythos. In einem Land, in dem Rituale und Symbole zum wichtigsten Element des politischen Stils gehören und in der Gesellschaft identitätsstiftende Funktion übernehmen, strahlte die „Rheinische Republik“ nach dem europäischen Umwälzungsprozess nicht mehr jenen symbolischen Glanz aus, der dem wieder vereinigten Vaterland gebührte.
Die politischen Auguren hatten keine Mühe, zügig – wie es die deutsche Tüchtigkeit verlangt – das Drehbuch für die erste Folge der „Berliner Saga“ anzufertigen: Deutschland sollte das Vorbild der „Neuen Ordnung“ werden; man wollte mit preußischer Strenge und protestantischer Ethik die moralische Ausstrahlung einer Bürgergesellschaft, die Korrektheit der politischen Elite, die sakrale Wahrung westeuropäischer Werte klar und unmissverständlich verkünden. So versuchte man seine zwar nicht gewollte, von den europäischen Partnern aber geradezu aufgedrängte Führungsrolle im europäischen Werdungsprozess mit gotischen Lettern auf seine Visitenkarte schreiben. Diese Vision stabilisierte bis heute die patriotische Befindlichkeit der Akteure, wäre da nicht dieser „kleine, dicke Mann“ (CDU-Jungpolitiker Christian Wulff) aus Kanada, der die Vermessenheit besitzt, sich in die deutsche Politik einzumischen. Die veralteten Mittel für den Geldtransfer, derer sich einige namhafte Funktionsträger der CDU bedienten, die schwarzen Konten und die Konfrontation mit mafiosen Praktiken teutonischer Prägung führten nicht nur zu einem fast vollendeten moralischen Zusammenbruch der „Partei der Mitte“, sondern dieses Verhalten der politischen Eliten desavouierte auch gravierend die Fundamente des deutschen demokratischen Systems. Die Entmythologisierung der politischen Kultur in Deutschland konnte nicht mehr gestoppt werden.
Der CDU-Skandal in Bonn und Wiesbaden hat jetzt die verborgenen Schwächen der politischen Kultur des Landes offengelegt. Die unzweifelhafte Parallele zu Italien, speziell zum Schicksal der Democrazia Cristiana, entlarvte nicht nur eine individuelle Schuld, sondern auch die Krise des Parteiensystems. Konfrontiert mit diesem Tatbestand, den ein Staatsanwalt gewöhnlich als das Produkt „krimineller Energie“ und ein Bürger als Merkmal einer „Bananenrepublik“ zu charakterisieren pflegt, stellt sich die Frage, ob Deutschland wirklich zu Europa gehört. Unabhängig davon hat die zufällige Enthüllung der „Saumagen-Connection“ den empirischen Beweis dafür erbracht, dass die über Jahrzehnte kultivierte Vorstellung, „Saubermänner“ seien das Privileg unserer politischen Kultur, eine subtile Ideologie war, die nicht nur die deutsche, sondern auch die europäische Öffentlichkeit irregeführt hat.
Die bekannt gewordenen Formen des parteipolitischen Nepotismus, des Favoritismus und der Korruption in Deutschland haben – bemerkenswerter Weise – nur zu wohl temperierten Bewertungen in der europäischen Öffentlichkeit geführte; in Deutschland jedoch hat die Entlarvung der aktiven und passiven Bestechung, des Amtsmissbrauchs und der illegalen Parteifinanzierung eine gewaltige Eruption hervorgerufen. Die Entrüstung des kritischen Bürgers und der besorgten Presse, die der „Kanzler der Einheit“ als unbelehrbarer Autist in dreister Weise zu attackieren versucht, gleitet jedoch immer wieder in eine bemerkenswerte Eindimensionalität, die sich gleichwohl als bedenkliches Zeichen in die Dramaturgie des politischen Geschehens fügt. Fast ins Unerträgliche steigt des deutschen Idealismus betörender Gesang, dessen Refrain der noch nicht taub gewordenen Öffentlichkeit die angebliche Trennung von Politik und Wirtschaft einzubleuen versucht. Nur die Feinde der Demokratie und ihrer offenen Gesellschaft können den Unsinn verbreiten lassen, dass trotz der real existierenden Herrschaft des Geldes in Staat und Gesellschaft und trotz des wachsenden Verlustes des Primats der Politik, die Welt des „Politischen“ ent-materialisiert werden könnte. Nur Fantasten oder Volkstribune können zu überzeugen versuchen, dass in der Politik nur das ethische Prinzip als die alleingültige Regel für das sittliche Handeln und Verhalten herrschen könne. Und nur Demagogen können in der Öffentlichkeit die Vorstellung erwecken, es sei durchaus möglich, dass in manchen Ländern eine politische Elite herangezogen werden könne, die klinisch steril und deshalb von menschlichen Schwächen befreit sei. Nicht Karl Marx, sondern Thomas Hobbes hat die realistische und säkularisierte Definition des vergesellschafteten Menschen geliefert, als er im „Leviathan“ schrieb: „Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis.“
Als pharisäisch und sträflich verantwortungslos lassen sich deshalb direkte oder indirekte Äußerungen charakterisieren, die der Öffentlichkeit vorgaukeln, die gesetzliche Norm zur Parteienfinanzierung sei eine „vernünftige Regelung“. Pharisäisch, weil das Parteiengesetz Verletzungen der Rechenschaftspflicht lediglich mit einer Geldstrafe sanktioniert. Sträflich verantwortungslos, weil die Äußerungen eine historische Amnesie befördern. Auf diese Weise wird die Erinnerung verdrängt, dass in der Weimarer Republik die industrielle Bestechung zerstörerische Folgen hatte und letztlich Spenden aus der Industrie einer der Gründe für den Aufstieg von Adolf Hitler waren.
Als Verfälschung der inneren Ordnung einer Zivilgesellschaft und der dort vorherrschenden Bürgerkultur sind wiederum jene Versuche zu bezeichnen, die den Applaus eines Teils der CDU-Anhängerschaft als Ausdruck des zivilen Widerstandes gegen die Fremdbestimmung durch den staatlichen Apparat und als Beweis einer postmodern emanzipierten Bürgerschaft hinstellen. Thesen wie diese wählen den Weg der Vereinfachung und der Verschleierung des Problems, weil sie sich der Illusion hingeben, die Akteure der Korruption wären die Avantgardisten einer künftigen Politik. Mit Hilfe dieser postmarxistischen Ideologie des libertären Individualismus soll die Ehre der Entehrten gerettet werden. Zugleich sollen marxistische Überbleibsel im Kollektivbewusstsein der Gesellschaft überwunden und das deutsche Bürgertum vom Makel der untertänigen „Staatstreue“ befreit werden.
Diese neudeutsche Ideologie, die im Kielwasser der „Kommunitarismus-Liberalismus-Kontroverse“ instrumentalisiert wird, ist auch für die Fundamente einer parlamentarischen Demokratie gefährlich. Erstens, weil sie zu suggerieren versucht, nur aus einem altertümlichen Staatsverständnis ließe sich die Respektierung des Normensystems verstärken; zweitens, weil sie die Begriffe von ihrem Inhalt entleert, indem sie den Eindruck entstehen lassen will, dass der Bürger im Sinne einer Zivilgesellschaft handele, wenn das Gemeinwohl dem partikularen Vorteil opfere; drittens, weil dem Bürger vorenthalten wird, dass diese Ansicht lediglich von liberalen Fundamentalisten vertreten wird; und viertens, weil sie verschweigt, dass die pluralistischen Interessen in einer Zivilgesellschaft durch Konfliktlösungsstrategien und ohne Aufopferung des Gemeinwohls geregelt werden können.
Der „Sumpf organisierter Kriminalität“ hat eine Staatskrise ausgelöst und rechtferigt deshalb die Frage nach der Stabilität der Demokratie in der Bundesrepublk. Die im Strom der Ereignisse entstandene Staatskrise kann erst dann überwunden werden, wenn auch die Reflexion über die politische Kultur des Landes, die Korrektur mancher Vorstellungen über die ethische Substanz der politischen Klasse sowie die Überprüfung derAussage mancher Apologeten des Filzes und der Amoralität zu den therapeutischen Maßnahmen gezählt werden; die Lösung dieses Problems liegt nicht allein in der Änderung von Gesetzen. Der Korruptionsskandal hat allerdings auch gezeigt, dass die Uhren der politischen Alltäglichkeit in Deutschland ebenso ticken wie im übrigen Europa.
Nikolaus Wenturis
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