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Die CDU-Spendenaffäre und ihre Folgen (11): Schäuble musste nicht wegen seiner Lügen gehen. Er wurde dem Kollektiv geopfertDas 100.000-Mark-Missverständnis

Der Skandal selbst ist der größte Aufklärer, über den dassoziale Leben verfügt

Nun ist Schäuble gestürzt, und Koch wird der Nächste sein. Aber sie wissen nicht, warum. Und wir, die wir es getan haben, wissen es auch nicht. Ist es nicht irrational, einem so kompetenten Politiker wie Schäuble den Laufpass zu geben, nur weil er die Unwahrheit gesagt und nicht genau geschildert hat, wie 100.000 Mark übergeben wurden?

Immerhin gibt es für ihre Abstrafung eine moralische Begründung, die denn auch gebetsmühlenartig wiederholt wird: „Wer gegen das Gesetz verstößt, muss bestraft werden. Wer das Parlament belügt, muss abtreten.“ Die Beschuldigten wiederum tun alles, um sich zu exkulpieren und ihre Lügen als lässliche Dummheiten auszugeben.

Dass der politisch-moralische Kampf als Angriff auf die persönliche Integrität und als Verteidigung derselben geführt wird, erscheint uns selbstverständlich. Wie sollte es auch anders sein? Eine Kollektivschuld kennt das moderne Recht nicht. So wer- den alle Verstöße und Verfehlungen Individuen zugeschrieben. 100.000 Mark eingeworben, gegeben, genommen, weitergegeben, angegeben, verbucht oder verheimlicht zu haben wird so zu einer Frage persönlichen Gewissens, persönlicher Rechtmäßigkeit, persönlicher Ehre oder Glaubwürdigkeit. Die Individualisierung aller politischen, finanziellen und moralischen Vorgänge ist Ausfluss eines modernen Weltverständnisses, das sich selbst so verständlich ist, dass es sich als Missverständnis gar nicht verstehen kann. So befinden sich Schäuble und Koch, ebenso wie ihre Widersacher, in satter Übereinstimmung mit dem Zeitgeist, wenn sie den Skandal des Umgangs ihrer Partei mit Geld unter dem Gesichtspunkt persönlicher Unschuld, persönlicher Schuld und persönlicher Entschuldigung individualisieren.

Aber das Individuum ist immer noch etwas anderes und mehr als bloß Individuum. Es ist auch Teil der kollektiven Identität. Als CDU-Mitglied ist Schäuble von einigen hunderttausend anderen Parteimitgliedern zu einem der Ihren gemacht worden – und zu ihrem Repräsentanten. Für Koch gilt Entsprechendes. Einige Millionen Hessen haben ihn sich angeeignet als Ministerpräsidenten. Als Deutsche setzen sich an die 80 Millionen mit ihm gleich. Und mit einigen hundert Millionen, Europäern und Außereuropäern, bildet er die kollektive Identität derjenigen, die der Parteiendemokratie anhängen.

Auch wenn Schäuble nicht alle gewählt haben – so wenig, wie er sie gewählt hat –, so hat doch ein Teil von uns ihn gewählt. Dadurch ist er wahrnehmbar geworden, eine öffentliche Person. Er repräsentiert nicht nur seine Wähler, sondern alle, die sich mit dem System der Demokratie identifizieren. Er stellt die Demokratie selbst vor. So wie ihn stellen wir uns die gewählten Demokraten vor. Oder so eben nicht. Was er vorstellt, ist nicht unsere Vorstellung von demokratischer Kultur. Das ist es, was uns aufbringt.

Das ist nicht alles, was uns aufbringt. Unser kollektives Selbst, obwohl es den Kämpfer schätzt, schätzt keine Politiker, die vor lauter individueller Selbstbehauptung ihr kollektives Selbst vergessen, durch das wir mit ihnen zu einer Einheit werden.

Dieses unwürdige Spiel wurde uns in den letzten Wochen, besonders von Koch und Schäuble, geboten. Ihre soziologische Rechnung war wohl die, einzelne Sündenböcke – möglichst solche, die wie Kiep, Prinz Wittgenstein, Weyrauch, vielleicht auch Kohl, die sowieso schon zum alten Eisen gehören – auszugrenzen und damit die Partei in gereinigter und erneuerter kollektiver Identität auferstehen zu lassen. Dass die Rechnung nicht aufgeht, liegt (hoffentlich) nicht daran, dass die Partei durch und durch verrottet wäre. Es liegt vielmehr an einem vorgelagerten Missverständnis, das Aufklärer in der CDU und Gegner der CDU mit allen modernen Menschen teilen: Es handelt sich um das Missverstehen der eigenen Gesellschaft als eine fortschreitend sich individualisierende, die ihre Probleme durch individuelle Entscheidungen, Zuschreibungen und Verantwortlichkeiten löst. Während die Aufklärer, diesem Trugbild aufsitzend, sich daranmachten, die Probleme der Partei zu individualisieren, arbeitete die soziale Wirklichkeit dem entgegen: Die Mitglieder und Wähler der CDU, besonders aber ihre Widersacher von außen, schreiben der Partei eine eigene kollektive Identität zu: Sie hat Ruhm und Pfründen langer Regierungstätigkeit kollektiv genossen, jetzt muss sie, auch kollektiv, die Unrühmlichkeit und Bestrafung für Verfehlungen tragen.

Aus der Anerkennung dieser kollektiven Realität ergibt sich für die Repräsentanten der Parteien ein anderes Selbstverständnis als das, was sie bisher an den Tag gelegt haben: Statt in peinlicher Weise individuelle Schuld abzustreiten oder einzugestehen, müssten sie einsehen, dass es darauf überhaupt nicht ankommt. Die Wirklichkeit der kollektiven Identitäten verlangt vielmehr nach einer kollektiven Buße, die der Partei wehtut. Die 40 Millionen Mark, die der CDU jetzt als Strafe abgefordert werden, haben diesen Bußcharakter, materiell und auch symbolisch. Damit aber nicht genug. Da es moralische Gefühle sind, die die CDU verletzt hat, muss sie auch ein moralisches Opfer bringen. Und da sie als Partei auf der Suche nach Macht ist, muss ihr Opfer auch ein Macht-Opfer sein. Sie muss Menschen opfern, die ihr die Hoffnung auf Macht verbürgen.

Solche Hoffnungsträger waren Schäuble und Koch. Wenn sie jetzt auf dem Altar des Skandals geopfert werden, dann nicht, weil sie individuell schuldig wären, sondern weil sie geeignet sind, durch ihren Rücktritt die kollektive Schuld der Partei abzutragen. Denn kollektive Schuld, die es in der individualistischen Rationalität des Rechts nicht geben darf, gibt es umso mehr in der moralischen Spontaneität des sozialen Lebens. In dieser Spontaneität gewinnt Individualität ironischerweise dann ihren höchsten moralischen Wert, wenn sie sich nicht als Verteidigung individueller Rechte oder Unschuld präsentiert, sondern als unschuldiges Opfer kollektiver Verfehlungen. Diese moralische Haltung ist nichts Archaisches. Sie ist in der modernen Gesellschaft sogar institutionalisiert: im Rücktritt des Ministers, der damit die „politische Verantwortung“ für Fehler in seinem Hause übernimmt, die ihm in der Regel individuell nicht anzulasten sind.

Was wie die Kriseder CDU aussieht,wird bereits morgenihr Kraftquell sein

Indem Schäuble und insbesondere Koch sich zum Rücktritt zwingen lassen, vergeben sie die Chance, aus ihrem Opfergang einen Gewinn an individueller Würde zu ziehen. Der Opfergang selbst ist unvermeidlich. Die kollektiven moralischen Gefühle sowohl der Parteimitglieder wie der weiteren Gesellschaft fordern ihn.

Haben die kollektiven Identitäten ihre Individualopfer bekommen, erküren sie sich neue individuelle Repräsentanten. Merz, Merkel und Wulff scharren mit den Hufen. Was heute noch wie eine Krise der CDU und der Parteiendemokratie aussieht, wird sich bereits morgen als Quell ungeahnter Kraft erweisen: für die CDU, die ihren patriarchalischen Ballast abwirft und zur attraktivsten Partei für die Jugend werden wird; für die deutsche Einheit, weil, im unaufdringlichen, aber unübersehbaren und autoritativen Krisenmanagement durch Merkel und Thierse, die gewohnten politmoralischen Dominanzverhältnisse zwischen West und Ost zum ersten Mal symbolisch und wirklich umgekehrt werden und der Osten eine unerwartete Genugtuung erfährt; für die Parteiendemokratie schließlich, die, wie alle erfolgreichen Institutionen, zu Selbstgefälligkeit und Blindheit neigt.

Ihr hat der Skandal den stärksten und heilsamsten Stoß versetzt. Er macht Angst, weil wir plötzlich erkennen, wie fragil die Institutionen sind, auf die wir uns felsenfest verlassen haben – gerade auch als ihre politischen Kritiker und Gegner. Er macht aber auch Mut, weil er das ans Licht bringt und bestärkt, was den Institutionen Leben einhaucht: Es sind dies die von vielen geteilten moralischen Gefühle. Der Skandal enthüllt sie nicht nur in ihrer Verletzbarkeit, sondern auch in ihrer Stärke, als kollektive Entrüstung. Sie ziehen politischem und ökonomischem Machtstreben Grenzen – die Grenzen einer politischen Kultur. Indem er die vordergründigen Mächte der Politik und der Ökonomie in ihre Schranken weist, gönnt uns der Skandal, in einer Momentaufnahme, einen kurzen Blick auf die heimliche Supermacht der kollektiven moralischen Gefühle, die Gesellschaften im Innersten zusammenhält und bewegt. Insofern ist der Skandal selbst der größte Aufklärer, über den das soziale Leben verfügt. Karl Otto Hondrich

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