Analyse: Die Balten als Statisten
■ Beim Treffen des Ostseerates gilt Bonns Interesse vor allem Rußland
Der Ostseerat, 1992 ins Leben gerufen, versammelte sich gestern zum dritten Treffen in der lettischen Hauptstadt Riga. Unter den Gästen weilt auch Bundeskanzler Kohl, dem der baltische Boden bisher immer zu heiß gewesen ist. Ganz oben auf der Agenda des Gremiums rangieren gemeinsame Anstrengungen bei der Verbrechensbekämpfung. Dem Baltikum, als Transitgebiet zwischen Rußland und Deutschland und Unterschlupf mannigfaltiger krimineller Machenschaften aus östlicher Richtung, kommt dabei eine herausragende Rolle zu.
Doch das dürfte den Kanzler weniger interessieren. Und auch die Balten – so nützlich die Arbeit der supranationalen Task Force im letzten Jahr gewesen sein mag – registrieren zunächst einmal die Bereitschaft des fremdelnden Deutschen, ihre Existenz doch durch massive Präsenz anzuerkennen. Die Klagen in allen drei baltischen Staaten ähneln sich fast aufs Wort. Nur die Esten nehmen sich da ein wenig aus.
Der Vorwurf gegenüber Bonn ist berechtigt. Die Integrationswünsche der Balten, sei es in EU oder Nato, werden am Rhein eher als Störfaktor begriffen. Das Interesse, die guten Beziehungen zu Rußland nicht vom Tändeln mit den Kleinen zu gefährden, überwiegt das Schuld- und Mitgefühl, das die Deutschen bedauerlicherweise nicht nur den Russen, sondern auch den Balten schuldig sind. Inzwischen geben die sich etwas gelassener. Die Unterzeichnung der amerikanisch-baltischen Charta vermittelte ihnen zumindest das Gefühl, der restlichen Welt nicht ganz gleichgültig zu sein.
Und doch: Fingerspitzengefühl gehört im Baltikum nicht zum Handgepäck der deutschen Diplomatie. Beim ersten Besuch in Riga zuerst die Nähe des russischen Vizepremiers Wiktor Tschernomyrdin zu suchen und sich in einem „informellen Gespräch“ auszutauschen, ist mehr als taktlos. Ursprünglich sollte der Ostseerat dazu beitragen, das belastete Verhältnis zwischen Balten und Russen zu entspannen. Statt dessen stecken die beiden Großen, denen das Baltikum jahrhundertelang auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, konspirativ ihre Köpfe zusammen. Wohl kaum wird der Kanzler seinen russischen Partner angehalten haben, die Grenzabkommen mit Lettland und Estland, obwohl die Balten auf ihre Besitzansprüche verzichtet haben, abzusegnen. Rücksichtnahme gegenüber dem Kreml ist von deutscher Seite selbstverständlich. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß Moskau sich gegenüber dem Baltikum erst gesprächsbereiter verhält, seitdem der Ostseeraum enger mit dem Westen verknüpft ist. Noch immer reagiert Rußlands Außenpolitik auf Druck am zuverlässigsten. Alte imperiale Allüren, die nichts von Äquivalententausch halten, schimmern wieder durch. Klaus-Helge Donath
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