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Die Angst der roten Kaderschule vor der „Umdoktrination“

■ Die EOS Runge in Oranienburg fürchtet um ihre Existenz / Schulleiterin Große (PDS) über den neuen pädagogischen Auftrag: „An allem ist zu zweifeln“

Bei der LehrerInnenkonferenz zum Schuljahresbeginn fehlen dieses Mal die Losungen des Pädagogischen Kongresses, die früher die Tafel schmückten. „Dieses Jahr kann ich mich nur selbst einbringen“, sagt Gerrit Große, Leiterin der „Erweiterten Oberschule Friedlieb Ferdinand Runge“ in Oranienburg. Dann hat sie doch ein Leitwort parat: „Es ist unsere Aufgabe, die humane Mitte zwischen Leistung und Solidarität zu finden“, zitiert sie den Bildungsminister der DDR, Meyer. „Dies ist unser Doppelauftrag“, verkündet Gerrit Große dem 33köpfigen Kollegium, das - abgesehen von fünf Neuen - weitgehend das gleiche geblieben ist. Gut die Hälfte war bis vor der Wende in der SED. Das brachte der EOS Runge den Ruf einer „roten Kaderschule“ ein. Heute steht sie damit in Verruf. Die Leiterin hat ihren Posten 1988, vor der Wende, bekommen, heute sitzt sie für die PDS im Kreistag. Das Kollegium hatte ihr das Vertrauen ausgesprochen, im Juni 1990 wurde sie von der Schulkonferenz erneut gewählt.

Das pädagogische Ziel ist heute nicht mehr die „allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit“ unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Einheitspartei. Der „Auftrag“ heißt jetzt: „Entfaltung der Individualität eines jeden Schülers in Würde, Freiheit und sozialer Verantwortung, die Erziehung eines mündigen, demokratischen Bürgers“. So steht es zumindest im Entwurf des Schuljahresrahmenplanes, den Gerrit Große erstellt hat. Der gilt, bis sich das zukünftige Land Brandenburg ein Schulgesetz gegeben hat. „Vielleicht ist er zu dünn und zu allgemein“, vermerkt die Direktorin selbstkritisch. Das kommende Jahr sei aber nunmal eine „Probier- und Experimentierphase“. Als Grundsatz könne nur gelten: „An allem ist zu zweifeln“. Aber, macht sie sich und ihrem Kollegium Mut, „wir sind auch nie mehr so frei wie in diesem Jahr, auch wenn ich mit dem Freiheitsbegriff Probleme habe.“

Existenzprobleme der EOS

Die 36jährige Lehrerin für Deutsch und Musik drücken aber noch ganz andere Probleme, die die ideologische Verunsicherung und die dringend notwendige Auseinandersetzung mit der zukünftigen Pädagogik zweitrangig erscheinen lassen. Es geht um Sein oder Nichtsein der EOS Runge. Noch ist die Schule voll belegt. Denn seit die Zulassungsbeschränkungen zur Abiturstufe weggefallen sind, die Vorkurse an den Unis und die Betriebsschulen aufgelöst und die Ausbildungsplätze in der Industrie drastisch reduziert wurden, hat ein Run auf die erweiterten Oberschulen eingesetzt. In der EOS Runge sind drei neue Klassen hinzugekommen. Mit 280 SchülerInnen ist das alte Backsteingemäuer, erbaut kurz nach der Jahrhundertwende, „bis oben voll“. Gerrit Große weiß jedoch nicht, „wie wir dieses Schuljahr materiell über die Runden bringen sollen“. Die Stadt hat die Konten der Schule sperren lassen. Einen eigenen Haushalt bekommt sie erst, wenn sich das Land gebildet hat. Das Geld hat gerade noch für die Kohlen gelangt. In den Sommerferien haben ein paar Lehrer ihre Klassenräume selbst gemalert - auf eigene Kosten. Ihre Kreide sollen sie zukünftig auch mitbringen.

Der Lohnfonds für die Lehrkräfte reicht hinten und vorne nicht. Gerrit Große hat ihre LehrerInnen alle „voll eingesetzt“, um dem Rotstift zuvorzukommen. Für mindestens 22 Wochenstunden Unterricht verdienen sie durchschnittlich 1000 DM netto im Monat, junge KollegInnen weniger. Dank des neuen Steuersystems haben sie seit dem 1. Juli monatlich 100 DM und mehr Gehalt eingebüßt. Das Bildungsministerium hat die versprochenen Ausgleichszahlungen inzwischen widerrufen. ÖTV und GEW führen zur Zeit zusammen mit den noch bestehenden DDR-Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes mit dem Büro von Ministerpräsident Lothar de Maiziere Tarifverhandlungen. Hauptforderung: 350 Mark bzw. mindestens 30 Prozent mehr pro LehrerIn, außerdem einen Sozialzuschlag von 50 Mark pro Kind.

Ein junger Lehrer, er verdient knapp 900 Mark, schlägt zum Auftakt des Schuljahres einen Warnstreik vor. Das Kollegium ist dagegen, weil bei den Eltern und in der Öffentlichkeit eine solche Aktion schlecht ankäme. Schließlich gehe es nicht nur um die Gehälter, auch die Arbeitsplätze sind bedroht. Der Direktor der benachbarten 10klassigen Polytechnischen Oberschule (POS), aus der die EOS Runge bisher einen guten Teil ihrer Abitursstufe rekrutierte, plant nämlich, aus seiner Schule wieder ein Gymnasium zu machen. Hat er Erfolg, fürchten das Runge-Kollegium das Aus für Schule und einen großen Teil der LehrerInnenschaft.

Gymnasium oder EOS?

Noch gibt es kein Landesschulgesetz und keine Entscheidung darüber, welchem Bildungssystem - dem dreigliedrigen oder der Gesamtschule - der Vorzug gegeben werden soll. Daher versucht jede Schule bereits, für ihre Interessen die Pflöcke einzuschlagen. In der EOS Runge ist die Mehrheit gegen das antiquierte und elitäre Gymnasium und für die Gesamtschule. Auch wenn der „Horror vor diesen Bildungskombinaten“ (Gerrit Große) erheblich ist und die Schule, schon von den Räumlichkeiten her, diesen Schritt alleine gar nicht machen könnte.

In den vergangenen Monaten taten sich Gerrit Große und einige KollegInnen bei Partnerschulen in West-Berlin und Hamm um. Mitgebracht haben sie einige gute Erfahrungen, auch wenn sie mit Schrecken gewisse „Disziplinlosigkeiten“ registrieren mußten, zum Beispiel daß SchülerInnen während der Stunde auch mal die Füße auf den Tisch legten. Wenn das Abitur in der ehemaligen DDR bis 1994 westeuropäisches Niveau erreichen will, so die einhellige Meinung im Kollegium, müssen LehrerInnen und SchülerInnen ordentlich zulegen. Wenig Nachholbedarf gebe es dabei in den naturwissenschaftlichen Fächern. Vergleiche mit West-Schulen hätten erbracht: „Hier liegen wir gut, wenn nicht gar über dem Durchschnitt.“

Lehren ohne Begleitbücher

Das größte Problem bereiten die ideologischen Altlasten bei Gesellschaftskunde, Geschichte und auch Deutsch. Die bisherigen Lehrbücher wurden inzwischen weitgehend entsorgt. Auf welcher Grundlage der Unterricht künftig geführt werden soll, darüber sind sich die FachlehrerInnen noch ziemlich unsicher. In einem Nebenraum stapeln sich neue Lehrbücher ein „Geschenk“ von BRD-Bildungsminister Möllemann. Knapp zwei Wochen hatten die FachlehrerInnen Zeit, sich aus einem umfänglichen Katalog ein Sortiment zusammenzustellen. Aber in manchem Fach, wie Deutsch zum Beispiel, reichen die neuen Bücher nicht einmal für eine ganze Klasse. Begleitbücher für LehrerInnen gibt es überhaupt keine. Nur der Lehrer für Gesellschaftskunde, der sich darüber freut, daß er in Zukunft keine Zensuren mehr verteilen muß, wurde reichlich beschenkt. Der hat jetzt einen ganzen Satz nagelneuer Bücher, aus denen er die richtige Mischung zusammenstellen soll, um bei seinen SchülerInnen „Meinungsvielfalt herauszukitzeln“ und eine „Kultur des Streits“ zu entwickeln. Gefahr sieht er aber in einer „schleichenden Umindoktrination“. Die meisten seiner KollegInnen teilen die Angst, daß ihnen nun einfach das Bildungskonzept der BRD übergestülpt wird. Gerrit Große hat inzwischen beschlossen, die 'Prawda‘ abzubestellen und dafür die 'Lehrerzeitung‘ für die Schule zu abonnieren.

Ulrike Helwerth

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