piwik no script img

Die Angst beim Stasi sitzt tief

■ 1. Jenaer Open–Air Frühstück endete mit Geldstrafen / 8 Monate Haft für Collage

Berlin (taz) - „Sie haben am 12.7.86 eine Ordnungswidrigkeit begangen, in dem Sie gegen 9 Uhr 35 in Jena, Platz der Kosmonauten, an einer Zusammenkunft mitwirkten, die geeignet war, die gesellschaftlichen Interessen zu mißachten“. Am Vormittag jenes 12. Juli trafen sich auf dem eher öden Platz im Zentrum der thüringischen Stadt fünfundzwanzig junge Leute zum „1. Spontanen Jenaer Open–Air Frühstück“, wie ein mitgebrachtes Schild verkündete. Sie aßen an mitgebrachten Tischen. „Eine weitere ideologische Begründung fehlte“, heißt es in einem Brief aus der DDR lapidar. „Die Zahl der die Szene beobachtenden Polizisten stieg im Nu von zwei auf zwanzig.“ Nach einer Stunde kreisten die Ordnungshüter die Anwesenden ein, kontrollierten ihre Personalien und forderten sie auf, ihre Zusammenkunft aufzulösen. Kaum eine Woche später wurden die Spontan–Frühstücker zum Verhör geholt, vor einigen Tagen erhielten sie alle Strafbefehle - je nach Einkommen - zwischen 50 und 500 Mark. „Durch Ihre Handlungsweise verletzten Sie die gesetzlichen Bestimmungen, mißachteten gesellschaftliche Interessen und beeinträchtigten die Öffentliche Ordnung und Sicherheit“, heißt es in den gleichlautenden Strafverfügungen. Die prompten Reaktionen der Staatssicherheit auf das öffentliche Gelage erklären sich allein aus dem Ort des Geschehens. Schließlich war Jena in den letzten zehn Jahren immer wieder das heimliche Zentrum der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Und am Platz der Kosmonauten, dort wo das Frühstück aufgelöst wurde, schräg gegenüber vom sogenannten „Jenaer Pimmel“, dem Uni–Turm–Hochhaus und Wahrzeichen der Stadt, hatte in der Vergangenheit schon so manche oppositionelle Friedensdemo stattgefunden. Auf eben diesem Platz trafen sich auch monatelang Ausreisewillige, um in weißen Pullovern für ihre Forderung zu demonstrieren. Die DDR entledigte sich der meisten Oppositionellen durch Bewilligung von Ausreiseanträgen. Allein in Berlin–West lebt inzwischen eine mehr als hundertköpfige Jenaer Exilgemeinde. „Jetzt agiert da eine völlig neue Generation“, meint der Ex–Jenaer Roland Jahn, den die DDR–Staatsgewaltigen vor drei Jahren nur gewaltsam im versperrten Eisenbahnwaggon in den Westen abschieben konnten, zu dem Geschehen. Die schon fast hysterischen Reaktionen der Staatssicherheit auf das Spontan–Frühstück stehen nicht allein. So wurde jetzt erst bekannt, daß der Jenaer Lars Matzke (20 Jahre alt) im Juli verhaftet wurde, weil er eine Collage aus Wahlergebnissen im Zusammenhang mit der Volkskammerwahl an seiner Wohnungstür angebracht hatte. Sie war zusammengepuzzelt aus lauter Zeitungsausschnitten von DDR–Publikationen. Aber eine „Neukomposition“ von Wahlberichten (in der DDR werden ja immer alle mit 99,9 Prozent „gewählt“), wird leicht staatsabträglich. Er wurde am vergangenen Freitag wegen angeblicher „Herabwürdigung des Staates“ zu acht Monaten Haft verurteilt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen