: Die Amateurfunkerin
Die New Yorker Künstlerin Amy Sillman holt mit ihren ungebändigten Formen, Figuren und Farben Gegenwart ins Ludwig Forum Aachen und sprengt nebenbei die ehrwürdige Kunstsammlung des Hauses
Von Sophie Jung
Malerei, vor allem wenn sie abstrakt wird, fordert Sprache heraus. Wie lassen sich diese sprudelnden, unfertigen Formen, Figuren und Farben begrifflich erfassen, mit denen die 70-jährige US-Künstlerin Amy Sillman die gesamten Säle des Ludwig Forum Aachen flutet?
Wie Sillman einen türkisfarbenen – ja was? – Balken auf eine Wand legt, die sie quer in die einstige Fabrikhalle im Bauhausstil stellt, aus der in den späten 1920ern täglich rund 10.000 Schirme in die ganze Welt verschifft wurden. Im reinen Farbton sauber aufgetragen, so perfekt und industriell wie hier einst industriell Regenschirme fabriziert wurden, wellt sich die eine Seite des Balkens hinter ein Gemälde. Dieses ist gänzlich in das gleiche Türkis getaucht, auf dessen Leinwand in melancholischer Sachlichkeit eine strickende Frau an einem Tisch abgebildet ist, wohl darauf wartend, dass sich jemand an das volle Gedeck neben ihr setzt. „Veranda“ heißt das Bild von 1983 des belarussischen Künstlers Ivan Lubennikov. Eine Größe im sowjetischen und postsowjetischen Moskau, gesammelt von der staatlichen Tretjakow-Galerie – und auch vom rheinischen Sammlerpaar Irene und Peter Ludwig. Das hatte neben Pop Art, Expressionismus und Fluxus aus dem Westen auch Kunst aus dem ehemaligen Ostblock nach Aachen geholt.
Sillman hielt sich lange in den Depots des Ludwig Forums auf, holte heraus, was ihr gefiel – das tat sie übrigens schon einmal im MoMA New York und kürzlich im Kunstmuseum Bern – und versammelt nun für ihre Schau „Oh, Clock!“ die kunsthistorisch ziemlich wilde Auswahl von 80 Werken vor einer selbst angefertigten, mindestens ebenso wilden Kulisse. Neben jenen türkisen Balken, zum Beispiel, pinselte sie eine monumentale Hand, deren Zeigefinger gleichsam eine glühende Zigarette ist. Daneben noch flüchtige Striche, dreckig gepinselte Kurven, klare, monochrome Flächen, in fein abgestuften Blau- und Orangetönen. Etwas sieht aus wie ein Metallrohr, oder ist es doch Zigarettenasche? Dann das nächste Stück aus der Aachener Sammlung: Andy Warhols „Saturday’s Popeye“. Den Spinat hat die Comicfigur Popeye darauf schon verschluckt, man sieht nur in Warhol‘scher Wiederholung den kugelig angespannten Oberarmmuskel, bereit zum Schlag.
Es könnte sein, dass Sillman hier einen klassischen Antagonismus aufmacht, eine US-amerikanische Alltags- und Medienkultur der künstlerischen Zurückgezogenheit in der Sowjetunion gegenüberstellt. Doch um solch Deutungen geht es nicht. Sillman bringt hier vielmehr einfach alles zum Schwingen, lässt Popeyes Spinat über die politischen Regime, Genres und Zeiten hinweg auf Lubennikovs unangetasteten Teller springen. Ihre Kunst sei wie eine „Polaroidkamera, die Licht zutage treten lässt“, kann man sie aus dem Katalog zur Ausstellung zitieren, oder wie ein Piratensender, der Schallwellen aus der Umgebung auf die richtige Frequenz bringt, sie sei als Künstlerin eine Art „Amateurfunkerin“.
Solch Metaphern braucht man, um sich dieser Malerei auch begrifflich zu nähern. Amy Sillman nutzt davon viele, vergleicht in ihren Texten, die sie auch in eigenen Fanzines veröffentlicht, etwa den Abstrakten Expressionismus mit Hausbesetzungen oder das Malen damit, in New York City einen Parkplatz zu finden: „endlos, improvisiert und quälend“.

Eher zufällig
Eher zufällig sei sie im New York der 1970er zur Malerei gekommen. Und so richtig Malerei ist es auch nicht, was man in Aachen sieht. Obwohl bei ihr so viel von den karikaturenhaften Figuren eines Philip Guston, von der Flächigkeit einer Etel Adnan, von dem Händischen eines Robert Rauschenberg zu finden ist, bleiben ihre Leinwände und Blätter doch immer skizzenhaft, unfertig, wie Notizen. Und von denen legt sie große Reihen an und füllt ganze Wände. Wie bei einem Comicstrip kann man dann über mehrere Blätter hinweg der Genese einer rosafarbenen Strichansammlung hin zu einer sich krümmenden Frauenfigur zusehen, schält sich aus der abstrakten Form eine konkrete Gestalt heraus. Woanders verfolgt man ein kotzendes Männchen. Spontan nach Trumps ersten Wahlsieg 2016 habe sie es gemalt. Sillman formuliert durch ihre Malerei Gegenwart, ein Hier – und das ist humorvoll. Und wann sind ihre unfertigen Werke öffentlich zeigbar? Edgar Degas ließ seine Gemälde regelmäßig von seinen Sammlern zurückholen, weil er sie als noch verbesserungswürdig empfand. Wenn sich ein Bild irgendwie „auf eine nächste Ebene hin entwickelt“, sagt sie. Dahinter stecke auch ein Risiko. Das Unfertige zu zeigen, macht schließlich auch angreifbar. Heute, wo wir in den digitalen Medien aber so sehr mit perfekten, genormten Bildern und eindeutigen visuellen Botschaften umgeben sind, kriegt Amy Sillmans unvollendete Malerei dann etwas Widerspenstiges. Und darin wird ihre Kunst dann auch politisch.
Amy Sillman: „Oh, Clock!“, Ludwig Forum Aachen, bis 31. August. Katalog (Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König): 29 Euro.
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